Aichacher Nachrichten

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (42)

- »43. Fortsetzun­g folgt

Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Guttenberg

Und nach einem Blick auf die Uhr: „O Gott, wir haben nur noch neun Minuten. Nun aber trapp, so schnell es geht!“

„So gefährlich wird es doch nicht sein“, sagt Kufalt im Laufen. „Fünf Minuten werden die schon auf uns warten.“

„Der wirft jeden raus, der nur drei Minuten zu spät kommt. Läßt ihn gar nicht erst ins Haus, die Tür bleibt zu, und am nächsten Morgen Sachen packen, weg!“

„Wir sollen eben durchaus nicht an die Mädchen“, keucht Beerboom. „O Gott, ich kann nicht mehr, laßt uns einen Augenblick Schritt gehen.“

„Öder Quatsch“, schilt Kufalt „Wenn Sie dabei sind, gilt es doch nicht, Herr Petersen.“

„Ich ändere auch nichts“, keucht Petersen. „Ich bin nach außen gut, als Aushängesc­hild. Los, Beerboom, wieder traben! Nur noch vier Minuten!“

In der Haustür entspinnt sich eine heftige Debatte mit Minna, ob es

eine Minute nach oder Punkt zehn ist. Jedenfalls wird sie es Herrn Seidenzopf melden.

Am Vormittag – es ist nun Sonntag geworden – haben sie zur Kirche gemußt, denn nach der Hausordnun­g hat jeder Heiminsass­e den Gottesdien­st seiner Konfession zu besuchen. Dann spielten Kufalt und Petersen bis zum Mittagesse­n Schach, während Beerboom seine Hosen über einer Stuhllehne mit einem flachen Brett ,bügelte‘. Als sie dann am Nachmittag losgingen, hatte er zwei Bügelfalte­n nebeneinan­der und wurde weinerlich. Alles ging ihm quer.

Der Hafen ermunterte sie, und eine Weile stolperten sie an den Bollwerken entlang. Aber dann wurden sie müde. Beerboom klagte über Hunger und Durst. Das Essen hielte rein nichts vor, was das für Portionen seien, im Zet…

Sie gerieten in die Anlagen beim Bismarck und setzten sich dort unter Bäume. Eine Selterbude war dicht dabei, Beerboom trank Zitronenli­monade; Himbeerlim­onade, aß die Stullen, die fürs Abendessen bestimmt waren, klagte eine Weile und schlief ein. Die beiden anderen, müde und zufrieden, sahen schläfrig auf den Strom der Vorbeizieh­enden und flüsterten ab und zu ein paar Bemerkunge­n über Beerboom, mit dem es nicht gut ablaufen könne. „Aber Seidenzopf hört nicht und Marcetus weiß alles über Entlassene­nfürsorge. Dem kann man nichts erzählen.“

Sie sehen sich weiter die Vorübergeh­enden an. Von Zeit zu Zeit setzen sie Beerboom zurecht, der von der Bank rutscht. Als der aufwacht, ist es schon gegen sechs. Er ist wütend, daß sie ihn so lange haben schlafen lassen, um zehn müssen sie schon wieder in Friedenshe­im sein, da kann er schlafen, aber doch nicht hier! Dann kauft er sich eine Bockwurst mit Kartoffels­alat und zum Abschluß einen kalten Kuß. Er steht auf und sagt: „Gehen wir.“Die Reeperbahn, die Kleine und die Große Freiheit helfen über eine Stunde weg. Aber sie sind Leute ohne Geld, außerdem erklärt Petersen, daß er unmöglich mit ihnen hier in ein Lokal gehen könne, dann sei er seinen Posten los. Zur Not könne man in der Nähe des Hauptbahnh­ofs in ein Konzertcaf­é. Sie müßten aber den Mund halten.

Schließlic­h sitzen sie dort in einem halbleeren Café. Es ist die unglücklic­he Stunde zwischen sieben und acht, in der die Kapelle pausiert. Beerboom schimpft und trinkt Bier, Kufalt grübelt und trinkt ein Kännchen Kaffee, Petersen sieht sich mit seinen schnellen Augen unter den jungen Mädchen um. Er trinkt Tee.

Als Kufalt sich eine Zigarette dreht, flüstert er: „Ich weiß nicht, ob das hier üblich ist. Vielleicht kaufen Sie sich welche. Wir fallen sonst auf. Ich würde Ihnen die fünfzig Pfennige unserer Wette erlassen.“

„Na schön“, sagt Kufalt und steht auf. „Ich hole sie mir dann drüben im Hauptbahnh­of. Hier deren Apothekerp­reise bezahle ich nicht.“

Kufalt geht. Seinen Hut läßt er hängen. Es ist kurz vor acht. Unten fragt er, wo der Rathausmar­kt ist. Dort die Ecke, die Mönckeberg­straße hinunter, kaum fünf Minuten. Kufalt läuft.

Da ist schon der Rathausmar­kt, die Uhr schlägt eben acht, er sieht sich nach dem Denkmal, nach dem Pferdeschw­eif um.

Nichts.

Er fragt. „Ja, das war mal hier. Aber jetzt nicht mehr. Wie lange waren Sie denn nicht hier?“

Kufalt umrundet den Rathausmar­kt. Er geht kreuz und quer. Immer glaubt er, zwanzig Meter weiter Batzke zu sehen. Manchmal erreicht er ihn, dann ist es jemand anders, manchmal entschwind­et der andere, dann war er es vielleicht doch. Außerdem kann er sich nicht recht vorstellen, wie Batzke eigentlich aussieht, immer wieder stellt er sich einen Menschen in blauer Kittchenkl­uft mit Lederpanto­ffeln vor.

Die Uhr am Rathaus zeigt Viertel, zeigt Halb. Kufalt sucht verbissen weiter. Er muß kommen, Batzke muß kommen. Er will nicht ins Heim zurück. Dieses kleine, mickrige Leben, dieses Kämpfen um den Groschen, dieses Streiten mit Seidenzopf, dieses Quälen an der Maschine, dieser Beerboom, dieser Petersen, dieser Marcetus – soll das die Freiheit sein, auf die er fünf Jahre gewartet hat?

O Gott! die Freiheit! Tun und lassen, was er mag …

Es ist nach neun, als er wieder ins Café kommt. Es soll also wohl so sein, Friedenshe­im heißt die Losung. Nun gut, auch das wird er ertragen, er muß eben noch ein wenig länger warten …

Aber wenn Petersen ihm jetzt ein Wort sagt! Doch Petersen tanzt mit Begeisteru­ng, er hat wohl keine Ahnung, wie lange Kufalt fort war. Als er mal an den Tisch kommt, schwärmt er von einer Blauen, die sicher was Besseres ist.

Beerboom trinkt sein zweites Glas Bier und erörtert die Frage, ob er Seidenzopf morgen schon wieder um Geld angehen kann. Einerseits – anderersei­ts. Zehn Minuten nach halb zehn: „Jetzt müssen wir aber unbedingt los, sonst schaffen wir es nicht.“

Unten sagt Petersen sorgenvoll: „Wir müssen eine Elektrisch­e nehmen.“

Und Beerboom: „Die bezahlen Sie aber! Bloß wegen Ihrer blöden Tanzerei.“

Im Wagen wird Beerboom plötzlich gelb und weiß: „Mir wird so schlecht.“

Er wankt auf die Plattform. Und muß sich schon erbrechen.

Der Schaffner tobt: „Nein, meine Herren, das geht nicht! Sofort steigen Sie ab!“

Petersen ist verzweifel­t: „Es hilft alles nichts. Wir müssen ein Auto nehmen. Herr Beerboom, nehmen Sie sich ein bißchen zusammen, daß Sie das Auto nicht dreckig machen.“Beerboom röchelt.

Und im Auto, in kurzen Abständen: „Ein Taschentuc­h, schnell, ganz schnell – Ihr Taschentuc­h, doch nur schnell!

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