Ein krankhaft wütender Täter
Eine Schlägerei und Schüsse mit einer Gaspistole vor dem Oberhauser Bahnhof. Ein Vorfall, wie er in der Süchtigenszene immer wieder passiert? Vor Gericht kommt eine ganz andere, tragische Geschichte zur Sprache
Auf dem Platz vor dem Oberhauser Bahnhof gibt es immer wieder mal Streitereien. Dieser Vorfall aber war ein besonderer. Rainer B.*, 59, hat mit einer Schreckschusswaffe eine Frau aus der dortigen Drogenszene bedroht. Er hielt ihr den Revolver – Typ Smith & Wesson, Chiefs Special, neun Millimeter – direkt vor das Gesicht und sagte: „Ich mach euch alle weg.“Die Frau alarmierte ihren Freund. Der stellte Rainer B. zur Rede. Rainer B. schoss mit der Gaspistole zwei Mal auf den Boden, dann feuerte er eine Ladung Reizgas direkt ins Gesicht des Mannes.
Heute schämt sich Rainer B. für diesen Ausraster. Er sagt, er kann es sich gar nicht vorstellen, dass er zu solch einer Tat fähig war. Im Gerichtssaal trägt er ein weißes Hemd und eine dunkelgrüne Krawatte. Der stämmige Mann wirkt auf den ersten Blick ruhig. So, als ob ihn nichts so leicht aus der Fassung bringen kann. Er ist eigentlich ein Profi in Sachen Sicherheit. Er hat jahrelang bei einem Sicherheitsdienst gearbeitet, ließ sich erfolgreich zur Fachkraft für Werkschutz weiterbilden. Er hatte einen sogenannten kleinen Waffenschein, der es ihm erlaubte, eine Schreckschusswaffe bei sich zu haben. Bis dato er auch noch nie Ärger mit Polizei oder Justiz.
Doch damals, im Sommer 2016, braut sich etwas zusammen. Innerhalb weniger Monate fällt er immer wieder durch Aggressionen auf. Der Vorfall mit der Pistole am Oberhauser Bahnhof bleibt nicht der einzige Fall, der aktenkundig wird. Im Februar 2017 schlägt er einen anderen Mann mit der Faust ins Gesicht und beleidigt Polizisten, die herbeigerufen werden. Im Mai 2017 kommen abends Polizisten zu seiner Wohnung, weil sich Nachbarn über Ruhestörung beschwert haben. Er wirft mit einem Buch nach den Polizisten und beschimpft auch sie wüst.
Inzwischen steht fest: Rainer B. ist krank. Er leidet an Wahnvorstellungen. Professor Albrecht Stein hat den 59-Jährigen vor dem Prozess untersucht und spricht von einer „paranoiden Psychose“. Er habe sich verfolgt gefühlt und sei stets davon ausgegangen, dass er angegrifhatte fen werde. Kann man einen Täter, der unter solchen Wahnvorstellungen leidet, denn überhaupt bestrafen? Der Mediziner kommt zum Ergebnis, dass Rainer B. zumindest eingeschränkt schuldfähig ist. Er habe auch damals gewusst, dass man niemanden beleidigen dürfe und dass ein Angriff mit einer Gaspistole nicht erlaubt ist. Jedoch habe er sein Verhalten nur noch schwer steuern können. Die Psychose habe zu der Zeit schon länger bestanden, behandelt wurde Rainer B. nicht. Er erkannte wohl auch gar nicht, dass er schwer krank ist.
Die Erkrankung hat den Vater zweier erwachsener Kinder nicht nur zum Straftäter gemacht. Er verlor dadurch auch seine Wohnung und seine Arbeit beim Werkschutz. Inzwischen gehe es für ihn langsam wieder aufwärts, sagt sein Anwalt Frank Thaler. Rainer B. wurde im Bezirkskrankenhaus behandelt. Er nimmt jetzt regelmäßig Medikamente und sieht inzwischen ein, dass er krank ist und medizinische Hilfe benötigt. Auch ein Betreuer wurde ihm zur Seite gestellt. „Man spürt es bei jedem Gespräch, dass er Fortschritte macht“, sagt Frank Thaler. Schwieriger ist es für ihn, einen neuen Job zu finden. In der Sicherheitsbranche kann er nicht mehr arbeiten. In seinem Alter noch mal neu anzufangen ist nicht einfach. Rainer B. ringt mit den Tränen, als er von seinen Bewerbungen berichtet, die bisher noch nicht erfolgreich waren. Und er sagt mit brüchiger Stimmer: „Es tut mir alles sehr leid.“
Amtsrichter Ralf Hirmer verkündet am Ende ein entsprechend mildes Urteil. Er verhängt eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und vier Monaten, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung
Angehörige der Szene verprügelten den Mann
und Beleidigung. Das entspricht genau dem Strafmaß, das die Verteidiger Frank Thaler und Michael Weiss zuvor beantragt haben. Letztlich beruhe alles auf der Erkrankung des Mannes. Er sei seither vom Leben schon so heftig gestraft worden, dass eine strengere Strafe nicht angemessen sei.
Für den Ausraster vor dem Bahnhof hatte Rainer B. ohnehin schon sofort eine Abreibung bekommen. Angehörige der Süchtigenszene hatten ihn nach dem Schuss mit der Pistole verprügelt. Auf Fotos, die von der Polizei kurz nach der Auseinandersetzung gemacht wurden, sieht man ihn mit einer blutenden Wunde am Kopf. *Name geändert