Aichacher Nachrichten

Dramen, die das Leben schreibt

- VON RICHARD MAYR rim@augsburger allgemeine.de

Manchmal wird das Leben selbst zum Schriftste­ller und schreibt seltsame Geschichte­n. Diese hier beginnt mit einer Wohnzimmer-Jalousie, die repariert werden muss. Im tiefen Winter bauen zwei Handwerker sie aus. Danach klafft draußen ein Loch oberhalb der Fensterfro­nt. Ein paar Wochen später wollen die Handwerker die Jalousie wieder einbauen. Aber: Das Ding funktionie­rt nicht richtig. Also wieder zurück damit. Langsam wird es April. Die Balkonpfla­nzen bekommen Blätter, die Natur erwacht. Ein langer Urlaub steht bevor. Also ein Anruf in der Firma: Bitte die Jalousie erst in vier Wochen bringen, weil: niemand zu Hause. In den Urlaub hinein schreibt die pflanzengi­eßende Nachbarin eine Kurznachri­cht: „Ich glaube, du hast einen neuen Untermiete­r bei dir auf dem Balkon“. Häh, Untermiete­r?

Tatsächlic­h. Zwei Vögel haben sich dort eingericht­et, wo sonst die Jalousie war. Also der Firma nach dem Urlaub mitgeteilt, dass die Jalousie weiter warten muss – brütende Vögel, die verjagt man nicht. Allerdings ist das Hausrotsch­wanzPaar not amused, dass es den anfangs so ruhigen Ort plötzlich teilen muss: Aufgeregte­s Geflatter an der Wohnzimmer­fensterfro­nt, sobald ich ihnen im Wohnzimmer zu nahe komme. Den Staubsauge­r am Samstag empfinden sie als eine Zumutung – also wird fortan der Besen benutzt. Weil es keine Jalousie zwischen ihnen und mir gibt, lasse ich das Wohnzimmer­licht abends aus. An neue Pflanzen auf dem Balkon ist nicht zu denken: Schon das Blumengieß­en alle zwei Tage macht die Vögel nervös. Womit klar ist, wer der neue Untermiete­r ist.

Den ersten großen Schreck mit den Mitbewohne­rn gibt es, als morgens ein Eichelhähe­r versucht, an das Nest zu kommen. Mit großen Gesten wird er vom Frühstücks­tisch aus vertrieben. Aber tagsüber ist niemand da, der den Hausrotsch­wänzen helfen kann. Also gilt abends der erste Blick den Vögeln und ihrem Nest. Alle noch da! Die Kleinen werden gefüttert.

Eines morgens sitzen zwei kleine Federbälle auf den leeren Blumentöpf­en auf dem Balkon, die sich in Flugübunge­n versuchen. Am liebsten hätte ich an diesem Tag freigenomm­en. Abends ist nur noch einer von beiden da. Dann kommt der zweite große Schreck: Als mich der Kleine im Zimmer erkennt, flattert er aufgeregt davon – gegen die Wohnzimmer-Scheibe und dann verdattert über das Geländer. Plötzlich sind alle Hausrotsch­wänze weg – und kommen nicht wieder. Statt Freude, dass ich abends das Licht anmachen kann und mich wieder länger als 30 Sekunden auf dem Balkon aufhalten kann, klafft da jetzt auch noch ein Loch in mir: Alle sind sie weg!

Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie vielleicht noch einmal im Juni brüten. Bis jetzt habe ich die Werkstatt wegen der Jalousie nicht angerufen. Kurz vor dem Schreiben dieser Kolumne dann das: Einer der beiden Federbälle zeigt sich morgens: Sitzt auf dem Gartentor der Nachbarin und grüßt mit seinem kleinen roten Stummelsch­wanz.

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Foto: Mayr Der junge Hausrotsch­wanz am ersten Tag außerhalb des Nests.
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