Was sich auch noch zu hören lohnt
Welche Musik komponierten die Zeitgenossen, während Beethoven seine Meisterwerke schrieb? Reinhard Goebel und die Augsburger Philharmoniker gaben Kostproben
Die Musikgeschichte ist keine Perlenschnur, an der sich allein die allergrößten Meister, Bach, Beethoven, Brahms und Co., lückenlos aneinanderreihen. Neben und zwischen ihnen gibt es auch andere Tonsetzer, kleinere und größere, in der Summe gewiss nicht wenige. Unter Musikfreunden wie unter Forschern ist es beliebter Diskussionsstoff, weshalb denn nun gerade dieser oder jener in Vergessenheit geriet, wo der doch – ein keineswegs seltener Fall – zu Lebzeiten berühmter war als der Meister, dessen Werke bis heute sich quicklebendig in den Konzertprogrammen tummeln. Thesen gibt es viele, eindeutige Antworten meist nicht.
Dass da Etliches, was in den Notenarchiven schlummert, die Ausgrabung verdienen würde, ja dass da echte Schmuckstücke zu entdecken sind, dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Nur trauen sich noch immer allzu wenige Konzertveranstalter, selbst kapitale Werke ins Programm zu heben, nur weil sie von X oder Y stammen, die es leider nicht in den allgemein akzeptierten Kanon geschafft haben. Lobenswerterweise gehören die Augsburger Philharmoniker nicht dazu, die im letzten Sinfoniekonzert dieser Saison die 2. Sinfonie von Beethoven – sozusagen die Einstiegshilfe – mit Musik von Franz Clement und Bernhard Romberg kombinierten.
Eine Zusammenstellung, die nicht verwundert, wenn man schaut, wer da in der Kongresshalle den Stab führt: Reinhard Goebel. Der Dirigent, legendär als ehemaliger Leiter der Musica Antiqua Köln, ist einer dieser unermüdlichen Spurensucher, die sich standhaft nicht zufriedengeben mit dem immer gleichen Programm-Einerlei. Nun sind Clement und Romberg zwar keine Archiv-Entdeckungen, aber gerade diese beiden mit Beethoven zu kombinieren, ist doch ein Ausweis von musikhistorischem Verstand. Denn Clement und Romberg erhellen, was im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, also während Beethovens früher und zu Beginn seiner mittleren Phase, um den Großmeister herum musikalisch geboten war, zumal Beethoven sowohl mit dem einen wie mit dem anderen persönlich bekannt war.
Romberg also, Bernhard Rom- berg. Cellisten kennen ihn auch heute noch als Verfasser von Schulen für das tiefe Instrument (das er selbst meisterlich beherrschte), doch was er als Komponist größerer Werke zu sagen hatte, ist in Vergessenheit geraten. Auf den Tod der preußischen Königin Luise 1810 hat er seine erste Sinfonie mit dem Beinamen „Trauersinfonie“verfasst, ein formal originelles Werk, das sich von der klassischen Satzfolge löst und die Trauerthematik, die sich etwa in der schmerzlich absinken- Notenfolge des Hauptthemas manifestiert, zum Schluss in ein verklärendes Andante überführt. Reinhard Goebel arbeitet in seiner Interpretation die subjektive Haltung dieser Musik heraus, indem er ihr pulsierende Dramatik verleiht und klangliche Schroffheiten nicht einebnet. Eigenschaften, die gemeinhin Beethovens Sinfonik zugeschrieben werden, weshalb man Goebels Darbietung wohl verstehen darf als ein „Seht her, das gab es auch bei den Zeitgenossen!“.
Im substanziellen Vergleich mit Rombergs Sinfonie ist das D-DurViolinkonzert von Franz Clement konventioneller gestrickt. Clement war der Uraufführungsinterpret von Beethovens Violinkonzert, und sein eignes Konzert entstand sogar noch vor Beethovens Opus 61. Doch die Originalität der Erfindung, das Herstellen musikalischer Spannung fand nicht auf vergleichbarem Niveau statt. Auch der solistische Part erschöpft sich vielfach in Passagenwerk, und so bietet er für Lena Neuden dauer, die nach dem Gewinn des Augsburger Mozart-Violinwettbewerbs 1999 längst zu einer der besten deutschen Geigerinnen aufgestiegen ist, nicht allzu viel gestalterische Herausforderung, sieht man einmal ab von der Herausstellung gesanglich-tonlicher Schönheit. Die Zugabe, Fritz Kreislers Rezitativ und Scherzo, hatte für die Geigerin merklich mehr zu bieten mit seinem geheimnisvoll dunkel getönten Eröffnungsund dem geradezu sprudelnden zweiten Teil mit all seinen Griff- und Flageolett-Künsten, die die Klasse-Violinistin mit eleganter Finesse statt mit blankem Virtuosen-Aplomb gestaltete. Bravos aus dem Publikum.
Reinhard Goebel, das weiß man, ist einer, der sich gerne querlegt über eingefahrene Spuren. Nicht nur, indem er die Vergessenen, die Rombergs und Clements, wieder ans Licht holt; sondern auch dadurch, dass er das Altbekannte über neue Leisten spannt. Beethovens Zweite also, gemeinhin gerne als „Frühwerk“apostrophiert, als Relikt
Die Zusammenstellung verwundert nicht
Leuchtende musikalische Landschaften
aus der Phase noch vor dem titanischen Wüterich, dem scheinbar „eigentlichen“Beethoven: Goebel macht unmissverständlich klar, dass parallel zur Entstehung dieser Sinfonie Beethoven an seinem Heilgenstädter Testament schrieb, dem verzweifelten Eingeständnis fortschreitender Taubheit. Schon die (gar nicht so langsame) Einleitung ist weniger philosophisch nachdenklich als von Unruhe gezeichnet, und das setzt sich verstärkt im Allegro fort. Hier peitschen die Sforzati, knallen die Trompeten und Hörner, was auf den verwendeten Naturinstrumenten besonders eindrucksvoll klingt. Überhaupt zieht das Orchester eloquent und dynamisch differenziert mit.
Auch im Larghetto will sich unter dem gestenreich vorwärtstreibenden Goebel kein rechtes „Verweile doch!“einstellen, unbehaust werden die leuchtenden musikalischen Landschaften durchmessen. Kulmination dann im Finale: permantes orchestrales Anrennen, kurze Momente des Aufatmens, neuerliche Einbrüche, ein Wechselbad der Affekte. So wie Goebel Beethovens 2. Sinfonie beschließt, ist das wie der Klang gewordene Erkenntnisschlag für ihren Schöpfer, dass die Leiden erst ihren Anfang genommen haben.