Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (90)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. © Projekt Guttenberg
Nun steht Kufalt in dem Chefredakteurbüro, vor dem weißgesichtigen Mann mit dem dunklen Scheitel, der schreibt und ihn nicht ansieht.
Vor einer halben Stunde in seinem Zimmer schien es Kufalt noch zweifelhaft, ob er den Brief überhaupt benutzen würde. Aber mit dem Widerstand wächst der Widerstand: was du geschrieben hast, Freundchen, das tu’.
„Also – Sie wollen?“fragt Scialoja und schreibt weiter.
„Ich habe Ihnen das ausführlich in meinem ersten Brief auseinandergesetzt“, antwortet Kufalt zögernd.
Der Chefredakteur sieht hoch. Er lächelt. „Ich habe so viele Dinge in meinem Kopf“, sagt er. „Hunderte kommen um Hilfe zu mir. Ich bin bekannt im ganzen Land. Was wollen Sie nun also?“
„Eine Stellung“, sagt Kufalt. „Irgend etwas zu arbeiten. Gleichviel was.“
Und er setzt leiser hinzu: „Ich habe Ihnen doch geschrieben, ich
bin vorbestraft. Ich finde nichts. Ich dachte, daß gerade Sie…“
Das ist eigentlich der richtige Appell an den großen Mann: ,gerade Sie‘; aber andererseits kann er wieder nicht zugeben, daß es Fälle gibt, die er noch nicht erlebt hat. Und so sagt er:
„Dutzende von Vorbestraften kommen zu mir um Hilfe, ich sage Ihnen, Dutzende.“
Er hat mit Schreiben aufgehört und sieht Kufalt freundlichkühl an. Kufalt steht abwartend. „Ja“, sagt der große Mann und noch einmal „ja“.
Kufalt weiß immer noch nicht, was er reden soll. Und so wartet er weiter.
„Sehen Sie“, sagt der große Mann, „ich habe zu arbeiten, ich vertrete das Volk, das einfache Volk, verstehen Sie. Blut und Scholle, verstehen Sie?“
„Ja“, antwortet Kufalt geduldig. „Ich darf mich nicht zersplittern“, sagt der andere weiter. „Ich habe einen Beruf. Verstehen Sie, was Berufung heißt?“
„Ja“, sagt Kufalt wieder.
Der Chefredakteur betrachtet den Bittsteller, als sei nun alles erledigt. Aber Kufalt findet, es ist nichts erledigt, man hätte ihn nicht zwischen elf und eins zu bestellen brauchen, damit er sich anhört, ein anderer hat einen Beruf, er hat keinen. So steht er weiter da. „Wissen Sie“, sagt Herr Scialoja, „Sie können ja vielleicht später mal wieder vorfragen. Wie gesagt, ich bedaure Ihr unglückliches Schicksal. Der Strafanstaltsdirektor hat mir eine ausgezeichnete Auskunft gegeben.“
Das Erinnern scheint ihm also wiedergekommen zu sein, trotz der tausend Dinge, die durch seinen Kopf gehen. Und so versucht Kufalt es noch einmal.
„Nur ein bißchen Arbeit“, sagt er. „Ein, zwei Stunden täglich.“Und er setzt lockend hinzu: „Ich hab’ eine eigene Schreibmaschine.“
Sein Gegenpart sieht bekümmert aus.
„Ja, ich weiß wirklich nicht“, sagt er zögernd, „ich lebe ja nur meiner Arbeit. Vielleicht sprechen Sie einmal mit unserem Geschäftsführer.“
„Würden Sie mich Ihrem Geschäftsführer empfehlen?“fragt Kufalt.
„Aber mein Heber Herr“, sagt der andere, „ich kenne Sie ja gar nicht.“
„Aber Sie haben doch mit Herrn Strafanstaltsdirektor gesprochen!“
„Der Strafanstaltsdirektor“, sagt der Chefredakteur und ist plötzlich ganz von dieser Welt, „empfiehlt natürlich alle seine entlassenen Gefangenen, damit er die Laufereien nicht mehr hat.“
„Aber warum haben Sie mich hierher bestellt?“fragt Kufalt.
„Wissen Sie was“, sagt der große Mann und hat eine Erleuchtung. „Wir haben da so einen Fonds, ich gebe Ihnen eine Anweisung an die Kasse auf drei Mark, und Sie versprechen mir, nicht wiederzukommen.“
Kufalt steht einen Augenblick still. Er besinnt sich. Dann sagt er plötzlich, und ist gar nicht mehr schüchtern:
„Sie wohnen doch in der Dottistraße, Herr Scialoja, in einer Villa?“
„Ja“, antwortet der Chefredakteur verwirrt.
„Na also“, sagt Kufalt. „Dann klappt es ja. Redaktionsschluß ist doch um sechs?“„Wieso?“fragt der andere. „Weil’s da dunkel ist“, sagt Kufalt und lacht.
Und lachend geht er aus dem Chefbüro. Er läßt einen ziemlich aufgeregten Mann hinter sich.
Das Lachen, mit dem Kufalt das Büro verlassen hatte, hielt nicht lange vor. Gewiß war die Dottistraße abends um sechs dunkel, und gewiß war es höchst angenehm zu wissen, daß Herr Scialoja in der nächsten Zeit mit Angstgefühlen nach Hause gehen würde, wahrscheinlich eskortiert von irgendeinem Redakteur oder Setzer – aber was half das alles!
Vierhundertdreißig Mark sind nicht so sehr viel Geld, und das Ende war leichthin auszurechnen. Nun gut, er würde zu den sechs Pastoren gehen, deren Adressen er am Schalter der Zeitung eingesehen hatte, aber auch dabei würde nicht viel herauskommen. Unter den sechs Geistlichen war einer, den Kufalt kannte. Das war der katholische Pfarrer, dem Kufalt im Gefängnis den Altar hatte zurecht machen müssen, ein alter, strenger Mann. Kufalt hatte manchen Streit mit ihm gehabt, der Pfarrer hatte es ihn wohl auch entgelten lassen, daß ihm von der Beamtenschaft ein „Evangelischer“für diese Arbeit aufgezwungen worden war. Aber trotzdem: jetzt, als Kufalt auf der Straße geht und den Fall bedenkt, scheint ihm der Mann nicht übel. Er ist eifrig gewesen für seine Gefangenen, er hat sie wohl angeschnauzt und gescholten, aber er war immer da für sie. Vielleicht ist er auch für Kufalt da? Kufalt entschließt sich ganz schnell: jetzt sofort, nach diesem verfluchten Scialoja, wird er zum Pfarrer gehen. Da empfängt ihn eine Nonne oder was das ist, man sieht fast nichts von ihrem weißen Gesicht unter der großen Haube. Kufalt muß lange warten, er steht da im Vorplatz, das Haus ist totenstill. Er steht lange da, aber er hat nichts zu versäumen, wirklich gar nichts. Schließlich kommt auch der Pfarrer. Langsam geht der große, starke Mann auf ihn zu, langsam und leise fragt er ihn, was er wohl möchte. Er hat Kufalt nicht wiedererkannt, und Kufalt muß ihn erst wieder ans Kittchen erinnern.
„Ja so“, sagt der Pfarrer und erinnert sich noch immer nicht recht. „Sie sehen jetzt aber anders aus. Sehr ordentlich.“
„Die andere Kleidung“, erinnert Kufalt.
„Ja, gewiß“, sagt der Pfarrer. „Andere Kleidung, ja.“
Er spricht immer langsam und leise, sicher ist er ein Bauernsohn von der Wasserkante, da sind sie so leise und stark.
„Und was kann ich jetzt für Sie tun?“ 91. Fortsetzung folgt