„Mehr Schlacht als Kunst“WM Kolumne
Die Halbfinals gefallen nicht zwingend aus stilistischen Gründen. Sorgen um das deutsche Team
Nur noch zwei Spiele – und dann ist die WM 2018 Geschichte. Faszinierend, wie schnell so ein Turnier vorbeirauscht. In der Vorrunde hat man das Gefühl, unendliche Wochen mit täglich zwei Fußballspielen vor sich zu haben. Aber mit der K.-o.-Phase geht es Schlag auf Schlag. Schade eigentlich, denn es war unterm Strich eine sehr gute WM mit guter Stimmung – auch dank des unerwartet starken russischen Teams. Andererseits ist es aber auch gut, weil man in den Halbfinals deutlich gesehen hat, dass die Spieler mit ihren Körpern und ihren Nerven kämpfen.
Besser wird eine WM nicht, wenn es aufs Finale zugeht. Es geht um Willen und Nehmerqualität. Die meisten Spiele erinnern eher an Schlachten als an Kunst. Kurz: Sie werden so, wie ich es als aktiver Spieler am meisten geliebt habe. Vor dem Fernseher, zugegeben, kommt dieser Kampf oft als Krampf rüber.
Insofern haben wir in beiden Halbfinals erstaunlich guten Fußball gesehen. Mit Frankreich steht einer der Favoriten im Finale. Die Franzosen vereinen Talent, Tempo und Kreativität mit enormer Routine und taktischer Disziplin. Sie sind das beste Team des Turniers, auch wenn ich die Belgier noch spannender fand und den Hut davor ziehe, wie viele gute Spieler dieses kleine Land hervorbringt. Seit der EM 1980, als wir sie im Finale geschlagen haben, hat Belgien wie- der eine goldene Generation. Jenes Finale 1980 habe ich übrigens ohne das Wissen unserer Teamärzte mit einer gebrochenen Mittelhand gespielt. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, wegen der Schmerzen auf ein EM-Finale zu verzichten.
Als ich am Mittwochabend in der Verlängerung in die Gesichter der Kroaten geschaut habe, habe ich genau diese Besessenheit erkannt. Sie haben mehr an sich geglaubt und mehr riskiert – und deshalb steht dieses noch kleinere Land verdient im Finale. Trotzdem tut es mir ein bisschen um die Engländer leid. Allerdings fehlten die Idee und der Schwung, aus dem Spiel heraus gefährlich zu werden. Ein Halbfinale ist dennoch aller Ehren wert.
Wir hätten gern getauscht. Ob wir Deutschen kurzfristig wieder ganz vorne landen können, da bin ich mir leider noch nicht sicher. Mir macht neben der sportlichen Herausforderung das Thema Stimmung und Mentalität ein wenig Sorgen. Ich habe schon vor Wochen in einer Talkshow gesagt, dass mir in der Debatte um Özil und Gündogan ein wenig die Bereitschaft fehlt, sich mal in die beiden Jungs hineinzuversetzen – abgesehen davon, dass das Foto mit Erdogan ein großer Fehler war. Ich habe drei Jahre in der Türkei gespielt und weiß daher, wie riesengroß für diese Spieler der innere Konflikt sein muss, wenn sie auf der einen Seite für Deutschland spielen und auf der anderen Seite die Verwandtschaft in der Türkei lebt. Wenn dann der türkische Präsident ein Selfie anfragt, können sie eigentlich nur verlieren. Ich hätte erwartet, dass Nationalspieler wie die beiden – mit Unterstützung des Verbandes – den Mumm haben, zu diesem Konflikt offen zu stehen und ihre Beweggründe auszudrücken.
Stattdessen gab es verschwurbelte Erklärungen oder Schweigen. Und nach dem Turnier fällt der Verband den Jungs, denen er vorher alles durchgehen ließ, noch in den Rücken. Die Andeutung von Oliver Bierhoff, man habe Özil lieber gar nichts sagen lassen, weil er das, was alle von ihm erwartet haben, nämlich eine Entschuldigung, nicht liefern wollte, finde ich traurig. Für mich heißt das: Gestandene Spieler haben im Jahr 2018 nicht den Mut, Haltung zu zeigen. Oder wir haben wieder ein gesellschaftliches Klima, das diesen Mut unmöglich macht. Beides ist bedenklich. Und beides muss sich ändern, wenn wir wieder erfolgreicher Fußball spielen und, was viel wichtiger ist, in diesem Land fair miteinander umgehen wollen.