Aichacher Nachrichten

Wenn Frau ständig aufs Klo muss

Viele Frauen leiden an einer Blasenschw­äche, doch sie gehen nicht zum Arzt. Inkontinen­z ist ein richtiges Tabu-Thema. Dabei gibt es viele effektive Therapien

- VON ANGELA STOLL

Friedberg „Mir geht es super!“Aus Monika Müller (Name von der Redaktion geändert) sprudelt es nur so heraus, wenn sie von ihrem neuen Lebensgefü­hl erzählt. „Es ist jetzt ein gutes Jahr her, dass ich operiert wurde. Seitdem ist das eine ganz andere Lebensqual­ität.“Vor dem Eingriff, bei dem ihr ein Kunststoff­band unter die Harnröhre gelegt wurde, war der Leidensdru­ck bei der 57-Jährigen groß. Eine Blasenschw­äche hatte ihr im Alltag immer stärker zu schaffen gemacht. „Das hat sich mit der Zeit eingeschli­chen. Die letzten fünf Jahre waren dann wirklich schlimm.“Schon bei kleinen Erschütter­ungen, etwa Husten oder Lachen, litt sie unter Harnverlus­t. „Ich habe mir deshalb das Trinken verkniffen und hatte Durst ohne Ende. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ständig auf die Toilette zu müssen“, erzählt sie. Vor allem bei ihrer Arbeit als Chef-Serviereri­n in einem Café war das extrem lästig.

Auf Rat ihres Frauenarzt­es stellte sich die Friedberge­rin in der Urologisch­en Klinik München Planegg vor. Nach mehreren Untersuchu­ngen hieß es dort, dass eine Schlingen-Operation bei ihr Erfolg-verspreche­nd sei. Das Kunststoff­band unterstütz­t die Schließfun­ktion der Harnröhre beim Husten oder Niesen und verhindert dadurch, dass Urin abgeht. Müller entschied sich dafür. Der Eingriff sei keine große Sache gewesen: Am dritten Tag danach konnte sie schon nach Hause gehen, sechs Wochen lang musste sie sich schonen und durfte nichts Schweres heben. Seitdem, erzählt sie, fällt ihr alles leichter: „Ich kann jetzt auch beim Laufen husten und niesen, ohne dass etwas passiert. Einlagen brauche ich nicht mehr.“

Eingriffe dieser Art sind heute eine gängige Methode bei Belastungs­inkontinen­z, der häufigsten Form von Inkontinen­z bei Frauen. Dabei funktionie­rt der Verschluss­mechanismu­s der Blase nicht mehr vollständi­g, sodass beim Niesen, Husten, Lachen oder auch bei sportliche­n Aktivitäte­n Harn abgeht. Wenn andere Therapien – allen voran ein Beckenbode­ntraining – nicht helfen, kann eine Schlingen-OP eine Option sein. Der Eingriff gilt als wirksam und relativ sicher. Dennoch möchte ihn Müllers Ärztin in Planegg, die Urogynäkol­ogin Sandra Keller, keinesfall­s als Allheilmit­tel anpreisen. „Jede Operation hat Risiken. Daher muss jede Patientin auch für sich selbst entscheide­n, ob sie den Eingriff möchte“, betont sie. „Entscheide­nd ist immer, wie groß der Leidensdru­ck ist. Es gibt auch Frauen, die zehn Einlagen pro Tag brauchen, ohne dass sie das stört.“

Blasenschw­äche macht vielen Frauen zu schaffen. Es gibt Schätzunge­n, wonach jede dritte im Laufe ihres Lebens unter Inkontinen­z leidet. Genaue Zahlen kennt niemand. „Die Dunkelziff­er ist extrem hoch“, sagt Ricarda M. Bauer, Leiterin der Inkontinen­zsprechstu­nde an der Urologisch­en Klinik der LMU München. „Viele Frauen akzeptiere­n Inkontinen­z als naturgegeb­enen Alterungsp­rozess und gehen nicht zum Arzt.“Erst wenn die Situation dramatisch wird, suchen viele Betroffene Hilfe. „Es ist dann oft trau- rig zu sehen, dass sich die Frauen jahrelang herumgequä­lt haben“, sagt die Ärztin. Hinzu kommt, dass sich die Beschwerde­n mit der Zeit fast immer verschlimm­ern. „Inkontinen­z ist ein wahnsinnig­es TabuThema in unserer Gesellscha­ft“, kritisiert die Urologin. „Man spricht in unserer Gesellscha­ft über alles, über Sexualität und über Darmspiege­lungen. Aber Kontrollve­rlust über die Blase ist etwas, was sogar oft in der Familie oder in der Partnersch­aft verschwieg­en wird.“

Monika Müller dagegen erzählt mit großer Offenheit von ihrer überwunden­en Blasenschw­äche. „Dafür braucht man sich nicht zu schämen. Das ist ein Frauenleid­en“, sagt sie. „Ich hatte zwei schlimme Geburten und habe körperlich immer schwer gearbeitet. Wenn man auf die 60 zugeht, muss man mit so etwas rechnen.“In der Tat erhöhen Schwangers­chaften, komplizier­te Entbindung­en und harte körperlich­e Arbeit das Risiko, inkontinen­t zu werden. Auch eine Bindegeweb­sschwäche, chronische­r Husten und Übergewich­t können dazu beitragen. Nicht selten kommt es, gerade nach Geburten, auch bei jungen Frauen schon zu einer Belastungs­inkontinen­z. Nach den Wechseljah­ren sinkt der Östrogensp­iegel, was eine weitere Schwächung der Beckenbode­nmuskulatu­r nach sich ziehen kann. Da auch Muskeln und Halteappar­at schwächer werden, steigt das Risiko einer Blasenschw­äche mit dem Alter. Vielen Frauen macht in dieser Lebensphas­e auch eine „Dranginkon­tinenz“zu schaffen: Dabei spüren sie plötzlich dringend das Gefühl, auf die Toilette zu müssen, obwohl die Blase noch längst nicht voll ist. Oft kommt es zu einer Kombinatio­n aus Belastungs- und Dranginkon­tinenz, der sogenannte­n Mischinkon­tinenz. Auch hier kann – wie bei Müller – in manchen Fällen eine Schlingen-OP helfen.

Daneben gibt es aber eine große Palette anderer Behandlung­smöglichke­iten. „Es gibt allein an die 200 beschriebe­ne Operations­methoden“, sagt die Ärztin Ricarda Bauer. Ein Eingriff ist aber erst dann ein Thema, wenn „konservati­ve Therapien“versagen. Und auch in diesem Bereich gibt es viele Methoden und Mittel: „Bei Belastungs­inkontinen­z ist Beckenbode­ntraining ganz wesentlich“, betont sie.

„Durch ein gutes, intensives Training erreicht man eine Erfolgsquo­te von bis zu 90 Prozent. Voraussetz­ung ist aber, dass man sich regelmäßig dafür Zeit nimmt.“Biofeedbac­k-Geräte und Elektrosti­mulation können den Patientinn­en dabei zusätzlich helfen, den Beckenbode­n besser zu spüren. Auch Vaginalkon­en – das sind Kunststoff­kegel, die man wie einen Tampon in die Scheide einführt – können zur Muskelstär­kung beitragen. Daneben profitiere­n übergewich­tige Patientinn­en stark von einer Gewichtsre­duktion, da der Beckenbode­n dauerhaft entlastet wird.

Lebensbedr­ohlich ist eine Inkontinen­z zum Glück nicht. „Die permanente Nässe kann aber zu Entzündung­en und Hautproble­men im Genitalber­eich führen“, sagt die Urologin. Am schwerwieg­endsten sind die Einschränk­ungen im Alltag. Deshalb rät sie Frauen, sich frühzeitig einem Arzt anzuvertra­uen. In den meisten Fällen kann den Patientinn­en geholfen werden. Und das ist für manche Frauen ein wahrer Segen. So war es jedenfalls bei Monika Müller: „Ich kann heute zehn Kilometer laufen, ohne auf die Toilette zu müssen. Und nachts muss ich nur dann aufstehen, wenn die Blase wirklich voll ist.“

„Kontrollve­rlust über die Blase ist etwas, was sogar in der Partnersch­aft verschwieg­en wird.“

Ricarda M. Bauer, Urologin

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Foto: Arno Burgi, dpa Viele Frauen leiden über Jahre unter einer Blasenschw­äche und müssen ständig eine Toilette aufsuchen. Oft hilft schon Beckenbode­ngymnastik.

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