Ist die Demokratie ein Mängelexemplar?
Die Sehnsucht der Deutschen nach starker Führung wächst. Das mühsame Ringen der Parteien um Kompromisse ermüdet sie zunehmend. Das ist fatal
Das Schicksal ist manchmal eben doch ein mieser Verräter. Da versucht die Politik mit aller Macht, dem Volk aufs Maul zu schauen – und das verdreht entnervt die Augen und schaut bewundernd zu den Haudraufs dieser Welt. 60 Prozent der Deutschen, so das aktuelle Ergebnis einer Allensbach-Befragung, sind der Meinung, es werde in der Politik zu sehr auf Kompromisse gesetzt, sie wünschen sich starke Führungsfiguren. Wenn’s sein muss, eben auch auf Kosten anderer. Die Umfrage muss ein schrilles Alarmsignal für die etablierten Parteien sein, denn übersetzt heißt das für sie: „Das Problem bin ich.“Gefährlich ist die Entwicklung aber für die gesamte Gesellschaft. Denn ist die demokratische Kultur erst einmal beschädigt, wird es schwer, die Wunde wieder zu heilen.
Tollkühnheit versus Konsenswahn, Kampfgeist versus Zauderei. Demokratie gilt inzwischen fast als Mängelexemplar. Die Menschen im Land sind erschöpft von all dem Stillstand, der Langsamkeit der Prozesse, der langatmigen Bürokratie. Die Routinen des politischen Alltags scheinen zum Hamsterrad mutiert, das angeblich nur von einer starken Hand zum Stillstand gebracht werden kann.
Dass Deutschland seit 2013 von einer Großen Koalition regiert wird, die bisweilen mehr mit sich selbst ringt, als dringend notwendige Reformen anzustoßen, hat das Gefühl eher verschärft. Mutige Entscheidungen jedenfalls sind es nicht, mit denen die Regierung seit der Bundestagswahl aufgefallen ist. Stattdessen befeuert der fahrlässige Umgang mit dem sensiblen Thema Asylpolitik den Eindruck, der Staat habe ohnehin die Kontrolle verloren und sei zu schwach, um die Herausforderungen der Zeit auch nur ansatzweise zu meistern.
So schaffen deutsche Politiker sich selbst ab. Das Heft des Handelns haben andere, härtere Gesellen in die Hand genommen: in China, Russland, Amerika. Mit Erlösergehabe erzählen sie ihren Wählern, dass einzig ihre Interessen von Belang seien. Schön einfach soll alles wieder werden: Zäune, Zölle, Zuwanderungsstopp. Konfrontation statt Kooperation. Und Europa? Gerät ins Stottern und feilt noch an der entsprechenden Antwort, während die Basta-Politiker schon wieder Fakten schaffen. Oder zumindest so tun als ob.
Wahrscheinlich würde ein Poltergeist wie Trump in Deutschland kaum mehrheitsfähig sein. Doch der Trumpismus, das Zweifeln an Autoritäten und die radikale Abkehr von politischen Werten, setzt sich auch hierzulande immer mehr durch. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich auch bei uns ein smarter Hauptdarsteller findet, der den Zeitgeist für sich zu nutzen weiß und das klassische Parteiensystem nicht nur an den Rändern, sondern bis in die Mitte hinein ins Rutschen bringt.
Wer wissen will, wie das aussehen kann, braucht nicht in die USA oder in die Türkei zu blicken, braucht sich nicht die Extreme herzunehmen. Unser Nachbar Frankreich macht vor, wie es auch gehen kann. Präsident Emmanuel Macron gilt als größter politischer Hoffnungsträger. Halb Europa lässt sich von seiner Führungsstärke faszinieren – und das sogar aus gutem Grund.
Anders als Trump und Putin steht er für Werte, die versöhnen statt auszugrenzen. Und doch gelang Macrons Aufstieg erst, als er seine sozialistische Partei verließ und als Gesicht der Bewegung „En Marche“in Richtung Elysée marschierte. Seine Wähler wollen nicht Teil eines trägen Altherrenklubs sein, sondern sich für ihre Anliegen einsetzen und einem Mann mit Charisma und Visionen folgen. Doch was kommt nach Macron? Was, wenn der Rockstar nur ein One-Hit-Wonder ist?
Viele sind erschöpft vom politischen Hamsterrad