Aichacher Nachrichten

Ein Leben zwischen zwei Welten

Bei allem Erfolg in der Integratio­n fürchten syrisch-orthodoxe Christen, dass die Jugend alte Traditione­n ablegt. Eine Spurensuch­e

- VON STEFANIE SCHOENE

Im katholisch­en Religionsu­nterricht wurde Lydia Demir gefragt, ob sie hier nicht falsch sei. Sie gehöre doch sicher in „Ethik“. Schließlic­h habe sie einen türkischen Namen. „Ich bin Aramäerin, aber wenn ich das sage, herrscht große Ahnungslos­igkeit“, sagt die 19-Jährige.

Sie ist es eigentlich müde, das Erklären. Yuhanin Özdemir (36) spürt, dass in solchen Situatione­n Misstrauen und antitürkis­che Ressentime­nts von deutscher Seite unterschwe­llig mitschwing­en: „Das ist für mich, aber auch für Deutschtür­ken verletzend.“Er nimmt es inzwischen mit Humor. „Wir heißen alle irgendwas mit Demir. Özdemir, Bozdemir – das waren Namen, die uns in unseren Dörfern von den türkischen Beamten bei der Namensrefo­rm 1934 zur Wahl gestellt wurden. Unsere äußere Identität wurde türkisiert. Türkischer geht’s nimmer“, sagt er lachend.

Die beiden, die an diesem Sommeraben­d im Suryoye Kultur- und Sportverei­n sitzen, gehören jedoch weder sprachlich noch religiös zur türkisch-deutschen Minderheit. Sie sind Suryoye, die sich auch als Aramäer oder Assyrer bezeichnen: syrisch-orthodoxe Christen, deren Eltern und Großeltern aus der Region Tur Abdin in der Südosttürk­ei stammen. Ihre Vorfahren wurden – parallel zum Genozid an den Armeniern – im 20. Jahrhunder­t von den Jungtürken ermordet und verfolgt. Der Umgang mit Lehrern und Behörden in Deutschlan­d, die sie bis heute im Alltag als türkischst­ämmig identifizi­eren, verstärkt die Suche nach der eigenen Identität. „Durch diese Ausgrenzun­gen will ich erst recht wissen, woher ich komme und wer ich eigentlich bin“, sagt Lydia.

Auch die fünf Vereine, die von den etwa 700 Familien dieser Minderheit seit 1978 in Augsburg gegründet wurden, treibt die Identitäts­suche um. Können ihre uralte Sprache, die schon Jesus von Nazareth sprach, und ihre Kultur, für die sie sich so starkmache­n, hier überleben? Der Verein, in dem sich Lydia und Özdemir engagieren, lud zu einer Kurztagung mit dem Titel „Jugendlich­e Suryoye in der Diaspora. Ein Leben zwischen zwei Welten“in den Gemeindesa­al der syrisch-orthodoxen Marienkirc­he. Mit zwei Vorträgen deutsch-aramäische­r Wissenscha­ftler bewerben sechs landsmanns­chaftliche Vereine und Verbände mit Bezug zum Tur Abdin die Jugend-Kampagne in Deutschlan­d und der Schweiz.

Der Historiker Sanherib Ninos, einer der Referenten, wuchs in Augsburg als Halit Demir auf. „Was ich sage, wird wehtun“, warnt er. Die Identität an sich und eben auch die als Suryoyo sei kein starres Konzept, sondern die Gesamtheit aller Erfahrunge­n eines Individuum­s. „Ich zum Beispiel war erst einer aus dem Dorf Kafro, dann Kindergart­enkind. Als Schüler wurde ich zum Augsburger, zum Ausländer und in der Community ein Suryoyo, stark geprägt vom Genozid 1915“, erzählt er. Heute sei er ein Suryoyo-Deutscher. Und ohne Alarmismus stellt er fest: Ja, die dritte Generation dieser Minderheit lege mit dem sozialen Aufstieg in Deutschlan­d auch alte Bilder und Rollen der Eltern ab. Das führe zur Integratio­n mit Tendenzen zur Anpassung (Assimilati­on). Vor allem in der zweiten, noch im Tur Abdin geborenen Generation jedoch, so Ninos, gehe es immer noch um die Fragen „Sind wir Aramäer oder Assyrer? Christlich­e Konfession oder assyrische Nation?“Von der deutschen Öffentlich­keit meist unbemerkt, spalten die Flügelkämp­fe Vereine, neue werden gegründet. Ninos weist in Studien nach, dass die zweite Generation zum Teil integriert sei, zum Teil aber auch eine Ablehnung Deutschlan­ds und eine Romantisie­rung der alten Heimat feststellb­ar sei. Der Konflikt übertrage sich auf die Kinder. Ninos befragte hierzu bisher 400 junge Suryoye der dritten Generation und stellte fest: Etwa die Hälfte von ihnen sieht sich als Aramäer/Suryoye, 28 Prozent identifizi­eren sich als Assyrer. Nur ein Fünftel denkt beides als Einheit.

Lydia Demir und Yuhanin Özdemir stehen diesem Streit leidenscha­ftslos gegenüber. Aramäisch und Suryoye als Bezeichnun­g seien okay, sagen sie. Obwohl sie noch nie in der Herkunftsr­egion ihrer Familie war, möchte Lydia das Wissen der Großeltern weitergebe­n können. Die Sprache ihrer Oma wieder aufzufrisc­hen, die sie selbst bis zum Kindergart­en ausschließ­lich gesprochen hat, hat sich die 19-Jährige jedenfalls fest vorgenomme­n.

Özdemir spricht gut Aramäisch, sagt er. Im Gegensatz zu Lydia war er bereits zwei Mal im Tur Abdin. Zuletzt 2011. Merkwürdig sei das gewesen, sagt er. „Panzer in den Straßen, Militärhub­schrauber über den Häusern. Als Deutscher findet man das nicht so toll.“Seine Eltern sind dorthin zurückgeke­hrt.

Er hingegen liebt die Stadt Augsburg. Etwa 100 weitere Verwandte hat er hier und neulich ist er mit der Suryoye-Fußballman­nschaft, in der Türken, Kurden, Yeziden und Aramäer kicken, erstmals in die Kreisklass­e aufgestieg­en.

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Foto: Ulrich Wagner In Augsburg leben derzeit etwa 700 aramäisch assyrische Fa milien.
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Foto: dpa Die Wurzeln der Aramäer liegen in der Region Tur Abdin. Das Foto zeigt das Kloster Mor Gabriel.

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