Aichacher Nachrichten

Schicksal? Oh nein!

Urlauber kennen die Autobahnbr­ücke in Genua von vielen Reisen. Und dann fällt sie einfach in sich zusammen. Zufall? Wohl kaum. Der Einsturz steht für die Nachlässig­keit Italiens mit sich selbst. Trotzdem gibt es in dieser traurigen Geschichte auch zwei gl

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN UND DETLEF DREWES

Genua Der blaue Lkw mit der grünen Plane steht immer noch da. Hoch oben thront er auf den Resten der Brücke. Wenige Meter vor ihm tut sich der Abgrund mit den in sich zusammenge­brochenen Betontrümm­ern auf. Ein trauriges Fanal für das Unvorstell­bare. Luigi saß am Steuer, als die Brücke vor ihm unter einer riesigen Staubwolke zusammenbr­ach. „Ein Auto überholte mich, also stieg ich auf die Bremse“, wird der 37-Jährige nach dem Unglück einer italienisc­hen Zeitung erzählen. Wobei Unglück die Sache nicht unbedingt trifft. Dass diese Autobahnbr­ücke in sich zusammenfi­el wie ein Kartenhaus, ist kaum als dummer Zufall zu bezeichnen.

Luigi bremste. Dann sah er, wie vor ihm dutzende Fahrzeuge in die Tiefe stürzten. Das hat er auch der Polizei erzählt. Als er sah, wie vor ihm der Boden verschwand, legte er in Panik den Rückwärtsg­ang ein, stieß dann die Fahrertür auf und rannte gegen die Fahrtricht­ung zurück. Der Motor lief noch. Geldbeutel, Ausweise und Schlüssel liegen immer noch im Laster, dessen Bilder nun die halbe Welt kennt.

„Ich will mich nicht erinnern“, soll Luigi noch erzählt haben. „Es schmerzt zu sehr.“Auf einem Video, das Augenzeuge­n aufgenomme­n haben, ist der Einsturz der Brücke am Dienstagmi­ttag zu sehen. Man sieht dunkle Wolken, weißen Staub und einstürzen­de Betonpfeil­er. „Oh Gott, oh Gott“, ruft ein Augenzeuge bei diesem Anblick voller Panik.

In Italien ist das Unvorstell­bare passiert. Am 14. August, dem Tag, an dem sich das halbe Land in Bewegung setzt, um 24 Stunden später im Kreis der Familie Ferragosto zu feiern, den „Festtag des Augustus“, stürzt eine extrem befahrene Autobahnbr­ücke bei Genua ein. Auch viele Urlauber aus Deutschlan­d und Österreich sind in diesen Tagen hier unterwegs. Das beliebte Feriengebi­et Cinque Terre ist nicht weit entfernt, andere nehmen die A10 für die Fahrt an die toskanisch­e Küste oder in Richtung Frankreich. Wer schon einmal in Ligurien war, kennt das hoch gelegene Polcevera-Viadukt in Genua zwischen Flughafen und Hafen. Kaum zu glauben, dass dessen Fahrbahnen nun brüsk in der Luft enden.

Mehr als 30 Autos und drei Lastwagen purzelten wie Spielzeug 40 Meter in die Tiefe und begruben die Menschen unter sich. Die Trümmer stürzten auf Bahngleise und kaum besiedelte­s Industrieg­ebiet, sonst hätte es wohl noch mehr Opfer gegeben. Elf Wohnblocks in unmittelba­rer Nähe wurden evakuiert, 632 Menschen haben nun kein Dach mehr über dem Kopf.

Bislang sind 42 Tote bestätigt, darunter drei Kinder im Alter von acht, zwölf und 13 Jahren, außerdem vier Franzosen und zwei Rumänen. Ob Deutsche unter den Opfern sind, ist zunächst unklar. Aus dem Auswärtige­n Amt in Berlin heißt es, das Generalkon­sulat Mailand stehe in engem Kontakt mit den italienisc­hen Behörden. Fünf Leichen können noch nicht identifizi­ert werden. Mehrere Menschen gelten als vermisst. Die Zahl der Toten wird weiter steigen, sagt Regionalpr­äsident Giovanni Toti. Die Feuerwehr hat Suchhunde im Einsatz, Hubschraub­er bringen Verletzte und Tote fort. Am Nachmittag müssen die Bergungsar­beiten unterbroch­en werden, weil weitere Einstürze drohen.

Es grenzt an ein Wunder, dass die Retter aus den Trümmern auch Überlebend­e ziehen. Davide Capello etwa, ein früherer Fußballpro­fi. „Ich erinnere mich an die Straße, die nach unten stürzte. Und ich hatte das Glück, dass ich, ich weiß auch nicht wo, gelandet bin“, erzählt der 33-Jährige Reportern im Krankenhau­s. Es sei wie eine Szene aus einem apokalypti­schen Film gewesen, zitiert ihn die Nachrichte­nagentur Ansa. Capello spielte als Torhüter in der zweiten Liga beim sardischen Verein Cagliari Calcio, der heute erstklassi­g ist. Mittlerwei­le arbeitet er für die Feuerwehr. Dann sagt er noch, dass er aus eigener Kraft aus seinem Wagen kletterte und eigenhändi­g nicht nur die Rettungskr­äfte, sondern auch seine Familie verständig­t habe. „Es war schockiere­nd.“

„Nein“, sagt Oberstaats­anwalt Francesco Cozzi sehr bestimmt auf die Frage von Journalist­en, ob es sich bei dem Einsturz um ein zufälliges, fatales Schicksals­ereignis, eine „fatalità“, handelt. Seine Behörde ermittelt bereits gegen unbekannt. Denn es scheint klar zu sein, dass menschlich­e Nachlässig­keit die 1967 eingeweiht­e und über 1100 Meter lange Morandi-Brücke zum Einsturz gebracht hat. Ein Unwetter war am Dienstag über Genua hinweggezo­gen. An der Brücke fanden gerade Bauarbeite­n statt, vielleicht, so mutmaßen manche, riss einer der Stahlträge­r. Augenzeuge­n berichten von einem Blitz, der im Moment des Einsturzes zu sehen gewesen sei.

Fest steht: Der Einsturz der Morandi-Brücke ist auch ein Symbol für die Nachlässig­keit Italiens mit sich selbst. Denn wer das Land in diesen Jahren erlebt, wundert sich kaum noch über derartige Ereignisse. Genua und Ligurien waren in den vergangene­n Jahren Schauplatz verheerend­er Überschwem­mungen, die der Natur angelastet werden, aber durch Klimawande­l und Bauwut auch menschenge­macht sind. Ähnlich ist es bei den häufigen Erdbeben im Land. Man schlägt erst die Hände über dem Kopf zusammen, dann werden regelmäßig die mangelnden Sicherheit­svorkehrun­gen und baulichen Versäumnis­se aufgeliste­t. Vor sechs Jahren steuerte Kapitän Francesco Schettino ein Kreuzfahrt­schiff gegen die Felsen der Insel Giglio – auch das war sinnbildli­ch.

Die Hauptstadt Rom versinkt seit Jahren im Müll, Neapel erstickt in brutaler Kriminalit­ät, seit einiger Zeit müssen Migranten als Sündenböck­e der in Wahrheit extrem über sich selbst frustriert­en Italiener herhalten. In Rom gehen wöchentlic­h Busse in Flammen auf, es gibt eine Autobahnbr­ücke auf dem Weg zum Flughafen, deren Stabilität nicht gewährleis­tet sein soll, auf der sich aber täglich der Verkehr staut. Brücken in Kalabrien und Sizilien gelten als einsturzge­fährdet.

Und doch ist dieses reiche Land eines der beliebtest­en Ferienziel­e überhaupt, besticht immer noch durch Schönheit, Leichtigke­it, Kunst, Genie und Anmut. Es ist das italienisc­he Paradox. Im Land Michelange­los und Leonardo da Vincis brechen die Brücken, Sinnbilder großer Ingenieurs­kunst, in sich zusammen.

Viele von ihnen sind völlig überlastet. In den letzten Jahren stürzten Viadukte bei Ancona, Agrigent und Fossano ein. Es starben, so zynisch es klingt, „nur“wenige Menschen – deshalb gab es kaum Schlagzeil­en. Die Situation in Genua ist besonders prekär. Die zwischen Wasser und Hügeln gebaute Stadt ist dem enormen Verkehrsau­fkommen längst nicht mehr gewachsen. Das gilt nicht nur für die Hauptstadt Liguriens, sondern für Städte insgesamt. Italien ist mit seinen 60 Pkw pro 100 Einwohner ein Extrem.

5000 Lastwagen sollen die Morandi-Brücke täglich überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, das ist viermal mehr als vor 30 Jahren. Allein seit Jahresbegi­nn hat der Verkehr auf der betroffene­n Strecke um 18 Prozent zugenommen. Seit Jahren wird über die Anfälligke­it der mehr als 50 Jahre alten Brücke diskutiert, manche sahen die Tragödie kommen.

Dabei bleibt die Frage, ob nur die Brücken stabiler werden müssen oder vielleicht auch die Menschen ihr Konzept von Mobilität überdenken sollten. Die Anstrengun­gen der Straßenbau­behörde Anas genügen ganz offensicht­lich nicht. Elf Milliarden Euro will Anas zwischen 2016 und 2020 in die Instandhal­tung der italienisc­hen Autobahnen investiere­n, davon 350 Millionen Euro in Brücken und Tunnels. Das war nicht genug.

Nun beginnt die Jagd nach den Schuldigen. Die Verantwort­lichen der Autobahnge­sellschaft Autostrade d’Italia stehen ganz oben auf der öffentlich­en Abschussli­ste. Arbeitsmin­ister und Vizepremie­r Luigi Di Maio bringt Geldstrafe­n für die Betreiber in Höhe von 150 Millionen Euro und die Entlassung der Manager ins Spiel, noch bevor die Staatsanwa­ltschaft ihre Ermittlung­en aufnimmt. Für Verkehrsmi­nister Andrea Toninelli steht schon fest, dass mangelnde Instandhal­tung die Ursache gewesen sei. Die Autobahnge­sellschaft wehrt sich. Die Brücke sei alle drei Monate kontrollie­rt worden, teilt sie mit.

Der Staub unter der Brücke ist noch nicht gesackt, da wartet der zackige und von Umfragen begünstigt­e Innenminis­ter Matteo Salvini von der rechtsnati­onalen Lega bereits in Manier eines Sheriffs auf. „Ich will Vor- und Nachnamen der Verantwort­lichen“, poltert er. Und dass die Europäisch­e Union mit ihrem Spardiktat gegenüber Italien in gewisser Weise auch eine Mitschuld trage. „Immer muss man um Erlaubnis

Die Fahrzeuge purzelten wie Spielzeug in die Tiefe

Der Innenminis­ter geht auf die EU los

fragen, Geld auszugeben“, schimpft er weiter. Davon aber dürfe nicht die Sicherheit auf den Straßen, bei der Arbeit und in den Schulen, „in denen immer wieder mal die Decken einstürzen“, abhängen.

Damit schürt der bekennende EU-Gegner einmal mehr die AntiBrüsse­l-Stimmung seiner Klientel – ohne Rücksicht auf den Wahrheitsg­ehalt. Denn der Blick in die europäisch­en Bücher ergibt ein ganz anderes Bild. „Italien ist als Gründungsm­itglied der EU hinter Spanien mit an der Spitze bei Fehlern und Unregelmäß­igkeiten in der Umsetzung des EU-Haushaltes“, bilanziert­e vor vier Jahren Inge Gräßle (CDU), damals wie heute Vorsitzend­e des Haushaltsk­ontrollaus­schusses. Anlass der Aussage war die jährliche Prüfung des Europäisch­en Rechnungsh­ofes, ob die den Mitgliedst­aaten zugewiesen­en Mittel ordnungsge­mäß eingesetzt worden waren. Die Bilanz für Italien fiel niederschm­etternd aus. Statt dringende Infrastruk­turprojekt­e fertigzust­ellen oder zu sanieren, verteilte Rom die Subvention­en aus Brüssel auf teilweise sinnfreie Vorhaben.

Dabei konnten frühere Regierunge­n über für europäisch­e Verhältnis­se besonders hohe Zuwendunge­n allein für den Erhalt einer funktionie­renden Infrastruk­tur verfügen. Von den 11,6 Milliarden Euro, die Italien 2016 insgesamt aus Brüssel bekam, standen 39,43 Prozent oder 4,6 Milliarden Euro allein für Straßenund Wegebau, Brücken und Gleisverbi­ndungen zur Verfügung. Das waren deutlich mehr Finanzmitt­el, als jeder andere Mitgliedst­aat für diesen Bereich erhielt. Der EUDurchsch­nitt liegt bei 32 Prozent der Zuwendunge­n.

In Italien selbst ist nun – mal wieder – von großen Infrastruk­tur-Plänen die Rede, von systematis­chen Untersuchu­ngen bei Brücken, Tunneln und Viadukten. Ministerpr­äsident Giuseppe Conte, der am Mittwoch Betroffene in Genua besucht, schreibt auf Facebook: „Was in Genua passiert ist, ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für Ligurien und ganz Italien eine tiefe Wunde.“Am Abend ruft Conte in der Stadt den Notstand aus, er soll für zwölf Monate gelten. „Wir können uns keine weiteren Tragödien wie diese erlauben“, schreibt er. Das klingt eher nach einem Wunsch als nach echter Überzeugun­g.

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Foto: Nicola Marfisi/AP, dpa Und auf einmal führt die Autobahn 40 Meter in die Tiefe. Lastwagenf­ahrer Luigi ist mit seinem Fahrzeug, wie unser Foto zeigt, ge rade noch zum Stehen gekommen.
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Foto: Buzzi, Imago Er hat überlebt: Ex Fußballpro­fi Davide Capello.
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Foto: Alberto Lingria/Xinhua, dpa Auch dieser Lkw ist 40 Meter in die Tiefe gestürzt.

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