Gibt es wahre Liebe unter Tieren?
Der Verhaltensforscher Norbert Sachser untersucht, warum uns Tiere im Denken, Fühlen und Handeln oft ähnlich sind. Er erzählt, wann Vogelweibchen untreu werden und warum den Menschen Meerschweinchen näher sind als Affen
Herr Professor Sachser, Sie schreiben, dass selbst Meerschweinchen zur Liebe fähig sind. Ehrlich wahr, können Tiere lieben?
Nobert Sachser: Wenn wir manche Tiere anschauen, gibt es da tatsächlich verblüffende Parallelen. Meerschweinchen beispielsweise gehen sehr enge partnerschaftliche Verbindungen ein. In Kolonien von Hausmeerschweinchen interessiert sich nicht jeder für jeden, sondern man kann individuelle und stabile Verbindungen beobachten. Man kann also ganz klar sagen: Das Weibchen B ist das Lieblingsweibchen des Männchens A.
Ist das Liebe?
Sachser: Das ist noch nicht unbedingt Liebe. Man kann aber über die Messung von Stresshormonen nachweisen, dass diese engen Beziehungen dieselben positiven Effekte haben wie bei uns Menschen. Man nimmt beispielsweise ein Hausmeerschweinchen-Männchen und setzt das in ein neues Gehege. Dann erlebt es eine akute Stresssituation. Wenn man dann zu dem Männchen ein fremdes Weibchen setzt, ergibt sich dieselbe Stressreaktion. Nimmt man aber das Lieblingsweibchen, gibt es keinen Stress mehr. Ganz ähnliche Untersuchungen gibt es beim Menschen. Sie zeigen, dass eine gute soziale Beziehung den Stress dämpft.
Gibt es noch andere Nachweise der Liebe unter Tieren?
Sachser: Ja, die gibt es. Wir von der Universität Münster haben vor Jahren in Bolivien eine neue Meerschweinchenart entdeckt. In Südamerika gibt es nämlich etwa zehn verschiedene Wildmeerschweinchenarten. Unseres heißt: das Münstersche Wieselmeerschweinchen. Wenn man von dieser Art ein Männchen und ein Weibchen nimmt und die zusammenbringt, geht das meist nicht gut. Die Weibchen sind dann sehr aggressiv und man muss die Tiere trennen, weil sie sich verletzen würden. In zehn Prozent der Fälle aber gehen die Tiere aufeinander zu und werden ein harmonisches Paar. Das heißt, es sieht danach aus, als könnte es bei diesen Wieselmeerschweinchen so etwas wie Liebe auf den ersten Blick geben.
Kommt die Liebe auch anderswo in der Tierwelt vor?
Sachser: Ja, das ist zwar selten, aber es kommt auch bei anderen Tieren vor, von denen wir wissen, dass sie monogam leben. Bei Säugetieren sind es etwa die sehr gut untersuchten Spitzhörnchen. Übrigens liegen bei harmonischen Paaren nicht nur die Stresshormone niedriger, sondern es liegt auch die Herzschlagrate bedeutend niedriger als bei nicht harmonischen Paaren. Dafür sorgt nicht zuletzt das Liebeshormon Oxytocin. Selbst das Immunsystem ist bei solchen Paaren besser. Und das ist bei Menschen genauso.
Es sind aber die wenigsten Tiere treu. Sachser: Ja, das kann man im Grunde so sagen. Um das herauszufinden, muss man aber genau hinschauen. Seit Jahrhunderten galten die Singvögel als Inbegriff der Treue. Da ist ein Männchen und ein Weibchen, die bauen gemeinsam ein Nest. Das Weibchen legt die Eier, beide kümmern sich um den Nachwuchs.
Jetzt folgt ein Aber, oder?
Sachser: Genau. Es gab plötzlich eine neue Technik, das DNA-Fingerprinting, den genetischen Fingerabdruck, mit dem beim Menschen Vaterschaften nachgewiesen werden können. Diese Technik kann man auch bei Tieren anwenden. Und siehe da, bei Kohl- oder Blaumeisen stammten bis zu 80 Prozent der Nachkommen nicht von dem Männchen, das sie fütterte, sondern sie wurden von anderen Männchen in der Nachbarschaft gezeugt.
Das klingt sehr menschlich. Wie kommt das?
Sachser: Zuerst ist spekuliert worden, dass die Männchen fremdgehen. Als man sich das Ganze aber ge- anschaute, wurde klar, dass die Initiative fast immer vom Weibchen ausgegangen ist. Das heißt, die Weibchen suchen sich andere Paarungspartner, vermutlich, um so ihren eigenen Fortpflanzungserfolg zu maximieren. Vermutlich, weil sie feststellen, dass das Männchen in ihrem Nest nicht das beste ist.
Das heißt: Alles dreht sich um die Fortpflanzung?
Sachser: Ja, jedes Tier ist so gepolt, dass es versucht, die eigenen Gene mit maximaler Effizienz in die nächste Generation weiterzugeben. Und wenn man das am besten hinkriegt, indem man treu ist, dann bleibt man es auch. Ansonsten geht man fremd. Das heißt Männchen und Weibchen in einem Paar haben nicht immer dieselben Interessen.
Aber wie merken Kohlmeisen-Weibchen, dass sie eine Art Softie im Nest haben?
Sachser: In vielen Fällen wissen wir das im Detail noch nicht. Man kann aber sehen, dass Männchen manchmal mitbekommen, wenn ihre Weibchen fremdgehen. Man kann beobachten: je mehr fremd befruchtete Küken in dem Nest sind, desto weniger füttert das Männchen. Von Weibchen wissen wir aber auch, dass es bestimmte Merkmale am Männchen gibt, die sie bevorzugen.
Welche männlichen Merkmale schätzen die Weibchen?
Sachser: Je symmetrischer Männchen aussehen, umso besser. Das heißt, ein Weibchen ist mit einem weniger symmetrisch aussehenden Männchen zusammen und in der Nachbarschaft ist ein symmetrischeres, dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Weibchen fremdgeht. Man weiß aus Untersuchungen, dass beim Menschen Ge- sichter als umso so schöner und attraktiver bewertet werden, je symmetrischer sie sind.
Welche Tiere haben denn lebenslang nur einen Partner?
Sachser: Bei den Säugetieren ist es ein seltenes Phänomen. Das sind nur rund drei bis fünf Prozent der Arten. Interessanterweise gehören unsere nächsten biologischen Verwandten, die Menschenaffen, nicht dazu. Weder Schimpansen noch Orang-Utans noch Gorillas sind monogam. Die nächsten monogamen Verwandten sind einige Gibbonaffenarten. Auch der Biber ist monogam. Bei den Vögeln haben wir allerdings gelernt, dass wir unterscheiden müssen zwischen sozialer und sexueller Monogamie.
Das heißt, Weibchen und Männchen verbringen oft ihr Leben zusammen, aber paaren sich „auswärts“? Sachser: So in etwa, ja.
Welches Tier kommt dem Menschen am nächsten?
Sachser: Das ist schwierig zu beantworten. Es gibt kein Tier, von dem wir grundsätzlich sagen können, es sei dem Menschen am ähnlichsten. Wenn wir fragen: Welche Tiere sind uns genetisch am nächsten, dann reden wir von den Schimpansen und Bonobos. Was das Sozialverhalten betrifft, sind uns aber selbst die Meerschweinchen in einigen Aspekten verblüffend ähnlich.
Bei denen schützt ja eine gute soziale Beziehung vor Stress.
Sachser: Das stimmt und wir können auch angesichts der politischen Lage in der Welt fragen: Wie verhalten sich Tiere und Menschen, wenn sie auf Fremde treffen? Auch da konnten wir am Meerschweinchen nachweisen, dass es nicht an der genetinauer schen Veranlagung liegt, wenn mit Aggression und Stress reagiert wird.
Sondern?
Sachser: Wie ein Hausmeerschweinchen-Männchen auf ein fremdes reagiert, hängt ausschließlich damit zusammen, welche Erfahrungen es in der Pubertät gemacht hat. Männchen, die als Heranwachsende mit älteren Männchen zusammenleben, lernen, wie man auf fremde Tiere zugeht, ohne dass es zu Droh- und Kampfverhalten kommt. Meerschweinchen aber, die in der Pubertät keinen Kontakt zu erwachsenen Männchen hatten, sind in solchen Situationen richtig aggressiv und äußerst gestresst. Und ich sage oft in meinen Vorträgen: Wenn das Meerschweinchen in der Lage ist zu lernen, wie man stress- und aggressionsfrei mit Fremden umgeht, dann sollten wir beim Menschen davon ausgehen, dass er dazu auch in der Lage ist.
Können Tiere auch psychische Störungen wie Depressionen haben? Sachser: Bei Krankheiten können Tiere fast alles haben, was Menschen auch haben. Und wenn man ein Tier falsch behandelt, können auch Traumata ausgelöst werden. Es gibt Verhaltensstörungen. Die kann man oft bei landwirtschaftlichen Nutztieren oder Zootieren, aber auch Haustieren sehen. Tiere können sich auch freuen und haben Furcht und Angst. Das sind alles sehr alte Emotionen, die bei Mensch und Tier recht einheitlich zu sein scheinen. Wir wissen auch, dass sie in denselben Gehirnregionen ausgelöst werden. Letztendlich sind es auch ähnliche Krankheitsfaktoren wie etwa der Verlust des Bindungspartners. Das kann beim Menschen und bei Tieren dieselben verheerenden Auswirkungen haben.
Sachser: Ich glaube, wir sollten den Begriff böse nicht auf Tiere anwenden. Im natürlichen Lebensraum verhalten sich Tiere wie gesagt so, dass sie mit maximaler Effizienz ihre Gene weitgeben. Wenn es dabei hilfreich ist, jemandem zu helfen oder Konflikte zu lösen, dann machen die das. Das ist vom Schimpansen über Delfine bis hin zu Hunden beschrieben worden. Wenn Tiere aber ihre eigenen Interessen am besten bewerkstelligen können, indem sie drohen, kämpfen oder vergewaltigen oder sogar Kriege führen, wie wir es von Schimpansen kennen, dann tun sie das auch. Das ist aber keine Frage von gut oder böse. Da sollten wir Menschen nicht unsere Moralvorstellungen übertragen.
Was können wir Menschen vom Verhalten der Tiere lernen?
Sachser: Wir sehen, dass wir lebenslange Sozialisations- und Lernprozesse haben – zumindest bei den Säugetieren. Und das heißt, wenn die Tiere solch offene Systeme sind, sollten wir auch beim Menschen davon ausgehen, dass es zumindest aus biologischer Sicht nicht sehr viele Gründe für eine genetische Vorherbestimmung gibt. Außerdem gilt, was wir angesprochen haben: Wenn Tiere Methoden entwickeln, wie man sich friedlich mit Artgenossen arrangiert, dann sollten wir davon ausgehen, dass es auch beim Menschen keine biologisch vorherbestimmten Faktoren gibt, dass das bei
„Bei harmonischen Paaren sind die Stresshormone und die Herz schlagrate bedeutend niedriger.“
Prof. Norbert Sachser
uns nicht möglich wäre. Über Erziehung und soziale Erfahrung können wir lernen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es nicht durch die Gene bestimmt wird, wie sich jemand verhält und was aus jemandem wird.
Das gibt Hoffnung, oder?
Sachser: Ja, das stimmt. Zumal wir Menschen als einzige Lebewesen den genetisch programmierten Egoismus überwinden können. Wir können also so etwas machen wie eine Erziehung zum Frieden und eine Formulierung von Menschenrechten. Dazu sind Tiere nicht fähig.
Wer kann sich nach diesen Erkenntnissen, die Sie in Ihrem neuen Buch „Der Mensch im Tier“beschreiben, eigentlich noch von tierischem Fleisch ernähren?
Sachser: Mir war es in meinem Buch ganz wichtig, dass ich nicht als Moralapostel auftrete. Meine Intention für dieses Buch war: Für den Leser, der bereit ist, sich auf ein gewisses Niveau einzulassen, einmal zusammenzufassen, was die Wissenschaft über Tiere weiß. Damit liegen die Fakten auf dem Tisch, die wir über das Denken, Fühlen und Verhalten der Tiere kennen. Und mit diesem Wissen kann jeder sich seine eigene Meinung bilden. Mein Buch gestattet durchaus zu sagen, dass eine ökologische Landwirtschaft das Richtige ist. Man kann aber auch zu dem Schluss kommen, wir sollten vegan leben. Es wird aber schwierig zu glauben, dass eine Massentierhaltung, wie sie im Moment noch häufig praktiziert wird, vereinbar ist mit einem Wohlergehen der Tiere.
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Zur Person Professor Norbert Sachser ist ein deutscher Verhaltensforscher und Hochschullehrer an der Universität Münster. Der zeitweilige Präsident der Ethologischen Gesellschaft gilt als ein wichtiger Wegbereiter der deutschen Verhaltensbiologie. In seinem Buch „Der Mensch im Tier“(Rowohlt, 256 S., 20 Euro) beschreibt er revolutionäre wissen schaftliche Erkenntnisse zum Thema.