Fasching und Elvis unterm Maibaum
Mitten in den Sommerferien geht es in die Eichendorff–Schule, jeder Winkel dort ist voller Emotion. Am Georg-Käß-Platz eröffnen wir unsere Ausstellung, Haunstettens Box-Legende ist da und der Plattenteller dreht sich
So viele Leute! Kultur aus Haunstetten, unser dritter Dienstag am Georg-Käß-Platz. Sie kommen aus allen Richtungen. Es werden immer mehr. Mitten in den Sommerferien strebt die Menge in einer langen Prozession von unserem mobilen Schreibtisch unterm Maibaum hinüber – an den prägenden Ort der Kindheit. Die ehemalige Schule. Heute ist sie offen, Kultur aus Haunstetten lädt zur Führung, Besichtigung, Wiederbegegnung. Klassenzimmer von einst im neuen Gewand, der Mosaikboden aber wie früher, das Parkett gerettet und der Geruch im Gebäude irgendwie noch immer der alte. Jeder Winkel hier ist Erinnerung, Emotion.
Gut 75 Neugierige betreten die aufwendig sanierte Schule aus dem Jahr 1904 durch den Eingang vorne! Das wäre damals, zu ihrer Schulzeit, die bei den meisten viele Jahrzehnte zurückliegt, undenkbar gewesen. Da musste man als kleiner Schüler von der Schulhofseite durch den Hintereingang die EichendorffSchule betreten. Der Haupteingang war nur für Lehrer. Die Schulleiterin Ute Guggemos und den Architekten Roman Adrianowytsch haben wir gebeten, etwas über die Sanierung der Schule zu sagen. Das 114 Jahre alte Gebäude musste fit für die Zukunft gemacht werden. Spontan ist Bildungsreferent Helmut Köhler dazugekommen. Er erzählt, dass früher 700 Schüler in die Eichendorff-Schule gingen, heute sind es rund 170. Die Klassen waren früher riesig, bei Heinz Klaka waren es zum Beispiel 52 Buben. Paradiesische Zustände herrschen also heute – aber Neid stellt sich bei den alten Haunstettern nicht ein. Obwohl es einst noch Tatzen und Hosenspanner gab, wie sich Manfred Klittich erinnert – in den späten 1940er Jahren. Er weiß auch noch, dass der Spitzname eines Lehrers „Scheißhaus-Polizist“war, weil dieser in den Pausen kein Gedrängel vor den Toiletten dulden wollte – die übrigens fürchterlich gestunken haben, wie sich Annemarie Wahl mit ein bisschen Ekel erinnert. Einfach im Unterricht aufs Klo gehen – undenkbar.
Trotzdem spürt man, dass die Haunstetter nicht mit Groll ihrer alten Schule begegnen. Sie nehmen sogar wieder Platz – genau dort, wo sie vor einer Ewigkeit schon einmal gesessen haben, als sie das ganze Leben noch vor sich hatten. Florian Kreß hat seine Bank im alten Klassenzimmer gefunden: „Ja, das muss 1963 hier gewesen sein.“Wobei er auf dem Bild bei der Einschulung, das er auf seinem Smartphone zeigt, unglücklich ausschaut. „Erst ab dem zweiten Schuljahr hat mir die Schule Spaß gemacht“, sagt er.
Als wir wieder draußen an unserem mobilen Schreibtisch Platz nehmen, werden diese Schulerinnerungen für uns anschaulich: Margarethe Boiger hat das Album ihres Manns Erich Boiger dabei. Er war Lehrer an der Eichendorff und muss seine Schüler gemocht haben. Anders ist dieses Album nicht zu erklären. Es wirkt wie der Versuch, die Erinnerung an die vielen jungen Menschen, die er in seinem Lehrerleben unterrichtet hat, für immer zu bewahren – auf Fotos von der ersten Skifreizeit, von Wanderungen mit den Schülern, auch vom Theaterspielen im Unterricht. Der RütliSchwur aus Schillers Wilhelm Tell: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.“
Unter dem Maibaum haben wir unsererseits eine kleine Ausstellung eröffnet: Fotos aus Haunstetten – ausgewählt aus den Alben und Schubladen unserer Besucher. Erika Schild strahlt: Sie findet ihr Bild vom Mießl-Hof wieder, den ihre Großeltern einst hatten. Bekannt er, weil dahinter ein Minihang war, auf dem Haunstetten rodelte. Die Fotowände sind dicht umlagert – und Nachschub kommt an diesem Dienstag reichlich. Fotos vom alten Zerle-Hof, der inzwischen abgerissen ist. Das Pfarrheim von Sankt Georg steht jetzt dort. Alois Zerle hat Bilder von der Ernte in den 1930er Jahren dabei, auch ein altes Klassenfoto, aufgenommen drüben auf dem Hof der Eichendorff-Schule. Von links und von rechts reichen Leute Mappen und Unterlagen. Ins Stimmengewirr mischt sich immer wieder Lärm von der Hort-Baustelle neben der Eichendorff-Schule – der Kran wird aufgebaut.
Josef Hummel entfaltet einen riesigen Plan: Der mit vielen Zeichnungen verzierte Bauantrag für den Maibaum, unter dem wir sitzen – ein Dokument aus dem Jahr 1977. Hummel, der im Augsburger Stadtrat sitzt, ist einer dieser HardcoreHaunstetter, ein Archivar, ein Sammler, ein Ortsbeschwörer, lange Jahre Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Haunstetter Vereine.
Hummel pflanzt ein Eisenteil auf den Schreibtisch und ruft den Leuten zu: „Wer weiß, was das ist?“Rätseln am Schreibtisch. Ein Schwert? Hummel genießt ein wenig die Ratlosigkeit, dann klärt er auf. „Das ist die Funkantenne von einer Me 210!“. Kampfflugzeug. Gebaut ab 1941 in Haunstetten in den Messerschmittwerken. „Im Werk 3, in der Traditionshalle!“, sagt Hummel, der selbst ein Messerschmittler ist, 40 Jahre im Unternehmen gearbeitet hat. In seinem Garten leuchtet die alte Eingangslaterne von der fliegertechnischen Hochschule, die es in Haunstetten einmal gab.
Früher! Schwarz-Weiß-Fotografien, Berge alter Zeitungsausschnitte, ein knallbunter Faschingsorden der Haunnarria, die es nicht mehr gibt, irgendeine Fahnenweihe von 1955 mit viel Stahlhelmen auf jungen Köpfen im Hof der Eichendorff-Schule… Haunstetten als Erinnerungsort ist allgegenwärtig. Dann aber kommt Corinna Tomek, langes Haar und eher rheinisch gewar prägt als am Lochbach, und spricht nicht von Nostalgie, sondern von der Zukunft Haunstettens.
Zusammen mit Sabine Schwarzmann hat die zugezogene NeuHaunstetterin Tomek im März 2017 „Haunstettens nachhaltig-kulturelles Netzwerk“begründet. Sie wollen etwas für die Zukunft des Stadtteils tun. Sie kämpfen für ein zentral gelegenes Bürgerzentrum, einen Ort der „konstanten Begegnung und Aktion“, wie die Gärtnerin und Heilpraktikerin sagt. So etwas wie die Kresslesmühle schwebt den Aktivistinnen vor, die „Mitbegeisterte“suchen. Mit dem Kulturkreis Haunstetten ist das Netzwerk in Kontakt, Tomek nennt den Waldkindergarten und das Sozialkaufhaus als weitere Haunstetter Projekte, die viel leisten. „Wir wollen mit Haunstetten auf zu neuen Ufern“, sagt die Gärtnerin. Ein Kulturcafé im öffentlichen Raum, ein gemeinsames Atelierhaus für Kunstschaffende – an Ideen mangelt es nicht. Aber Tomek, Schwarzmann und die „Mitbegeisterten“, die sie inzwiJosef schen gewonnen haben, belassen es nicht bei Visionen auf Flugblättern. Das Netzwerk lädt am 26. September zum ersten „Musikstammtisch“von Haunstetten. Motto: Begegnung, Improvisation, Zusammenspiel.“Sie wollen etwas entfachen in Haunstetten. Gar nicht so einfach. „Manchmal habe ich das Gefühl, dieser Stadtteil ist einfach nur ein Schlafzimmer für Berufstätige“, sagt Tomek. (Kontaktadresse: krautgarten.sued@gmail.com).
Aber es ist ja nicht so, dass es nur die Vergangenheit und nur die Zukunft gibt, zwischendrin befindet sich die Gegenwart. In dieser wird regelmäßig Theater gespielt, erzählt Ludwig Luger, der Zweite Vorsitzende des Kulturkreises Haunstetten und so etwas wie der Intimkenner der Haunstetter Theaterszene – aus Leidenschaft und mittlerweile auch als Chronist. Er hat uns eine Liste mit den Gruppen zusammengestellt: 1. s’ Haunstetter Breddle (herkömmliches Dorftheater meist im schwäbischen Dialekt, zwei Produktionen); 2. Trachtlerbühne Haunstetten (Moderne Komödien im schwäbischen Dialekt, eine Produktion); 3. Kleine Komödie Augusta (glänzt in der Vorweihnachtszeit mit Märchenstücken, im Frühjahr ein Boulevard-Stück); 4. die Pausenkekse (Jugendtheatergruppe); 5. Theatergruppe St. Pius (Jugendtheatergruppe).
Inzwischen steht auf dem mobilen Schreibtisch unser Plattenspieler. Wir hören Schallplatten, die unsere Gäste mitgebracht haben. „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt …“Aber auch Haunstetter Aufnahmen drehen sich auf dem Plattenteller. Das Weihnachtsoratorium, eingespielt in Sankt Georg mit dem Kirchenchor Haunstetten, geht allerdings im Gesumm der Gespräche etwas unter. Elvis kann sich da besser behaupten. Und richtig gut
Im Unterricht aufs Schulklo – das war undenkbar
Gibt es am Ende des Tages ein Lagerfeuer?
ist die Akustik, als Bernd Haggenmüller in seine chromatische Mundharmonika bläst und spontan bei uns auftritt – auch er ein EichendorffSchüler. Werden wir am Ende dieses Tages ein Lagerfeuer auf dem Georg-Käß-Platz entzünden?
Ein Typ, mit dem man da gerne sitzen würde, ist Armin Kneer. Er stellt sich vor als „ältester Ringrichter Bayerns“, und „ewigen Haunstetter“. Kneer war Boxer, er ist Jahrgang 1941, hat 122 Kämpfe im Schwergewicht bestritten und bis heute 510 Box-Veranstaltungen begleitet. Weil alle unsere Stühle besetzt sind, steht Armin Kneer, ein Goldkettchen mit zwei Boxhandschuhen als Anhänger um den Hals, neben dem Plattenspieler.
Ein paar Plätze weiter haben sich drei Generationen Haunstetter Sportgeschichte versammelt: Hildegard Siwi, ehemalige Abteilungsleiterin Handball ist da, Albert Loderer, den der TSV nicht nur zum Ehrenpräsidenten ernannt hat, sondern nach dem der Sportverein seine große Dreifachturnhalle benannt hat. Was für eine Ehre! Und Herbert Vornehm, der sonst mehr mit unseren Kollegen aus der Sportredaktion zu tun hat als heutiger Abteilungsleiter Handball. Vornehm erzählt noch einmal von diesen unwahrscheinlichen drei Jahren, als die erste Handball-Frauenmannschaft gegen alle Wahrscheinlichkeit in der zweiten Bundesliga spielte. „Wir Haunstetter in der zweiten Bundesliga!“
Gertrud Widmeier legt inzwischen auf – wir schreiben und schreiben und haben gar keine Hand mehr frei. Oldies, mit denen sicher irgendwann einmal die Musikboxen der Lokale von Haunstetten bestückt waren, tönen über den Georg-Käß-Platz. Was bleibt alles ungehört an diesem Dienstag! Die Single des „Jugendchors Haunstetten“beispielsweise mit „Chorälen und Motetten alter Meister.“Dafür hören wir zum Abbau in der Abendsonne „Paranoid“von Black Sabbath. Was für ein Tag!