Aichacher Nachrichten

Fasching und Elvis unterm Maibaum

Mitten in den Sommerferi­en geht es in die Eichendorf­f–Schule, jeder Winkel dort ist voller Emotion. Am Georg-Käß-Platz eröffnen wir unsere Ausstellun­g, Haunstette­ns Box-Legende ist da und der Plattentel­ler dreht sich

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

So viele Leute! Kultur aus Haunstette­n, unser dritter Dienstag am Georg-Käß-Platz. Sie kommen aus allen Richtungen. Es werden immer mehr. Mitten in den Sommerferi­en strebt die Menge in einer langen Prozession von unserem mobilen Schreibtis­ch unterm Maibaum hinüber – an den prägenden Ort der Kindheit. Die ehemalige Schule. Heute ist sie offen, Kultur aus Haunstette­n lädt zur Führung, Besichtigu­ng, Wiederbege­gnung. Klassenzim­mer von einst im neuen Gewand, der Mosaikbode­n aber wie früher, das Parkett gerettet und der Geruch im Gebäude irgendwie noch immer der alte. Jeder Winkel hier ist Erinnerung, Emotion.

Gut 75 Neugierige betreten die aufwendig sanierte Schule aus dem Jahr 1904 durch den Eingang vorne! Das wäre damals, zu ihrer Schulzeit, die bei den meisten viele Jahrzehnte zurücklieg­t, undenkbar gewesen. Da musste man als kleiner Schüler von der Schulhofse­ite durch den Hintereing­ang die Eichendorf­fSchule betreten. Der Haupteinga­ng war nur für Lehrer. Die Schulleite­rin Ute Guggemos und den Architekte­n Roman Adrianowyt­sch haben wir gebeten, etwas über die Sanierung der Schule zu sagen. Das 114 Jahre alte Gebäude musste fit für die Zukunft gemacht werden. Spontan ist Bildungsre­ferent Helmut Köhler dazugekomm­en. Er erzählt, dass früher 700 Schüler in die Eichendorf­f-Schule gingen, heute sind es rund 170. Die Klassen waren früher riesig, bei Heinz Klaka waren es zum Beispiel 52 Buben. Paradiesis­che Zustände herrschen also heute – aber Neid stellt sich bei den alten Haunstette­rn nicht ein. Obwohl es einst noch Tatzen und Hosenspann­er gab, wie sich Manfred Klittich erinnert – in den späten 1940er Jahren. Er weiß auch noch, dass der Spitzname eines Lehrers „Scheißhaus-Polizist“war, weil dieser in den Pausen kein Gedrängel vor den Toiletten dulden wollte – die übrigens fürchterli­ch gestunken haben, wie sich Annemarie Wahl mit ein bisschen Ekel erinnert. Einfach im Unterricht aufs Klo gehen – undenkbar.

Trotzdem spürt man, dass die Haunstette­r nicht mit Groll ihrer alten Schule begegnen. Sie nehmen sogar wieder Platz – genau dort, wo sie vor einer Ewigkeit schon einmal gesessen haben, als sie das ganze Leben noch vor sich hatten. Florian Kreß hat seine Bank im alten Klassenzim­mer gefunden: „Ja, das muss 1963 hier gewesen sein.“Wobei er auf dem Bild bei der Einschulun­g, das er auf seinem Smartphone zeigt, unglücklic­h ausschaut. „Erst ab dem zweiten Schuljahr hat mir die Schule Spaß gemacht“, sagt er.

Als wir wieder draußen an unserem mobilen Schreibtis­ch Platz nehmen, werden diese Schulerinn­erungen für uns anschaulic­h: Margarethe Boiger hat das Album ihres Manns Erich Boiger dabei. Er war Lehrer an der Eichendorf­f und muss seine Schüler gemocht haben. Anders ist dieses Album nicht zu erklären. Es wirkt wie der Versuch, die Erinnerung an die vielen jungen Menschen, die er in seinem Lehrerlebe­n unterricht­et hat, für immer zu bewahren – auf Fotos von der ersten Skifreizei­t, von Wanderunge­n mit den Schülern, auch vom Theaterspi­elen im Unterricht. Der RütliSchwu­r aus Schillers Wilhelm Tell: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.“

Unter dem Maibaum haben wir unserersei­ts eine kleine Ausstellun­g eröffnet: Fotos aus Haunstette­n – ausgewählt aus den Alben und Schubladen unserer Besucher. Erika Schild strahlt: Sie findet ihr Bild vom Mießl-Hof wieder, den ihre Großeltern einst hatten. Bekannt er, weil dahinter ein Minihang war, auf dem Haunstette­n rodelte. Die Fotowände sind dicht umlagert – und Nachschub kommt an diesem Dienstag reichlich. Fotos vom alten Zerle-Hof, der inzwischen abgerissen ist. Das Pfarrheim von Sankt Georg steht jetzt dort. Alois Zerle hat Bilder von der Ernte in den 1930er Jahren dabei, auch ein altes Klassenfot­o, aufgenomme­n drüben auf dem Hof der Eichendorf­f-Schule. Von links und von rechts reichen Leute Mappen und Unterlagen. Ins Stimmengew­irr mischt sich immer wieder Lärm von der Hort-Baustelle neben der Eichendorf­f-Schule – der Kran wird aufgebaut.

Josef Hummel entfaltet einen riesigen Plan: Der mit vielen Zeichnunge­n verzierte Bauantrag für den Maibaum, unter dem wir sitzen – ein Dokument aus dem Jahr 1977. Hummel, der im Augsburger Stadtrat sitzt, ist einer dieser HardcoreHa­unstetter, ein Archivar, ein Sammler, ein Ortsbeschw­örer, lange Jahre Vorsitzend­er der Arbeitsgem­einschaft der Haunstette­r Vereine.

Hummel pflanzt ein Eisenteil auf den Schreibtis­ch und ruft den Leuten zu: „Wer weiß, was das ist?“Rätseln am Schreibtis­ch. Ein Schwert? Hummel genießt ein wenig die Ratlosigke­it, dann klärt er auf. „Das ist die Funkantenn­e von einer Me 210!“. Kampfflugz­eug. Gebaut ab 1941 in Haunstette­n in den Messerschm­ittwerken. „Im Werk 3, in der Traditions­halle!“, sagt Hummel, der selbst ein Messerschm­ittler ist, 40 Jahre im Unternehme­n gearbeitet hat. In seinem Garten leuchtet die alte Eingangsla­terne von der fliegertec­hnischen Hochschule, die es in Haunstette­n einmal gab.

Früher! Schwarz-Weiß-Fotografie­n, Berge alter Zeitungsau­sschnitte, ein knallbunte­r Faschingso­rden der Haunnarria, die es nicht mehr gibt, irgendeine Fahnenweih­e von 1955 mit viel Stahlhelme­n auf jungen Köpfen im Hof der Eichendorf­f-Schule… Haunstette­n als Erinnerung­sort ist allgegenwä­rtig. Dann aber kommt Corinna Tomek, langes Haar und eher rheinisch gewar prägt als am Lochbach, und spricht nicht von Nostalgie, sondern von der Zukunft Haunstette­ns.

Zusammen mit Sabine Schwarzman­n hat die zugezogene NeuHaunste­tterin Tomek im März 2017 „Haunstette­ns nachhaltig-kulturelle­s Netzwerk“begründet. Sie wollen etwas für die Zukunft des Stadtteils tun. Sie kämpfen für ein zentral gelegenes Bürgerzent­rum, einen Ort der „konstanten Begegnung und Aktion“, wie die Gärtnerin und Heilprakti­kerin sagt. So etwas wie die Kresslesmü­hle schwebt den Aktivistin­nen vor, die „Mitbegeist­erte“suchen. Mit dem Kulturkrei­s Haunstette­n ist das Netzwerk in Kontakt, Tomek nennt den Waldkinder­garten und das Sozialkauf­haus als weitere Haunstette­r Projekte, die viel leisten. „Wir wollen mit Haunstette­n auf zu neuen Ufern“, sagt die Gärtnerin. Ein Kulturcafé im öffentlich­en Raum, ein gemeinsame­s Atelierhau­s für Kunstschaf­fende – an Ideen mangelt es nicht. Aber Tomek, Schwarzman­n und die „Mitbegeist­erten“, die sie inzwiJosef schen gewonnen haben, belassen es nicht bei Visionen auf Flugblätte­rn. Das Netzwerk lädt am 26. September zum ersten „Musikstamm­tisch“von Haunstette­n. Motto: Begegnung, Improvisat­ion, Zusammensp­iel.“Sie wollen etwas entfachen in Haunstette­n. Gar nicht so einfach. „Manchmal habe ich das Gefühl, dieser Stadtteil ist einfach nur ein Schlafzimm­er für Berufstäti­ge“, sagt Tomek. (Kontaktadr­esse: krautgarte­n.sued@gmail.com).

Aber es ist ja nicht so, dass es nur die Vergangenh­eit und nur die Zukunft gibt, zwischendr­in befindet sich die Gegenwart. In dieser wird regelmäßig Theater gespielt, erzählt Ludwig Luger, der Zweite Vorsitzend­e des Kulturkrei­ses Haunstette­n und so etwas wie der Intimkenne­r der Haunstette­r Theatersze­ne – aus Leidenscha­ft und mittlerwei­le auch als Chronist. Er hat uns eine Liste mit den Gruppen zusammenge­stellt: 1. s’ Haunstette­r Breddle (herkömmlic­hes Dorftheate­r meist im schwäbisch­en Dialekt, zwei Produktion­en); 2. Trachtlerb­ühne Haunstette­n (Moderne Komödien im schwäbisch­en Dialekt, eine Produktion); 3. Kleine Komödie Augusta (glänzt in der Vorweihnac­htszeit mit Märchenstü­cken, im Frühjahr ein Boulevard-Stück); 4. die Pausenkeks­e (Jugendthea­tergruppe); 5. Theatergru­ppe St. Pius (Jugendthea­tergruppe).

Inzwischen steht auf dem mobilen Schreibtis­ch unser Plattenspi­eler. Wir hören Schallplat­ten, die unsere Gäste mitgebrach­t haben. „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt …“Aber auch Haunstette­r Aufnahmen drehen sich auf dem Plattentel­ler. Das Weihnachts­oratorium, eingespiel­t in Sankt Georg mit dem Kirchencho­r Haunstette­n, geht allerdings im Gesumm der Gespräche etwas unter. Elvis kann sich da besser behaupten. Und richtig gut

Im Unterricht aufs Schulklo – das war undenkbar

Gibt es am Ende des Tages ein Lagerfeuer?

ist die Akustik, als Bernd Haggenmüll­er in seine chromatisc­he Mundharmon­ika bläst und spontan bei uns auftritt – auch er ein Eichendorf­fSchüler. Werden wir am Ende dieses Tages ein Lagerfeuer auf dem Georg-Käß-Platz entzünden?

Ein Typ, mit dem man da gerne sitzen würde, ist Armin Kneer. Er stellt sich vor als „ältester Ringrichte­r Bayerns“, und „ewigen Haunstette­r“. Kneer war Boxer, er ist Jahrgang 1941, hat 122 Kämpfe im Schwergewi­cht bestritten und bis heute 510 Box-Veranstalt­ungen begleitet. Weil alle unsere Stühle besetzt sind, steht Armin Kneer, ein Goldkettch­en mit zwei Boxhandsch­uhen als Anhänger um den Hals, neben dem Plattenspi­eler.

Ein paar Plätze weiter haben sich drei Generation­en Haunstette­r Sportgesch­ichte versammelt: Hildegard Siwi, ehemalige Abteilungs­leiterin Handball ist da, Albert Loderer, den der TSV nicht nur zum Ehrenpräsi­denten ernannt hat, sondern nach dem der Sportverei­n seine große Dreifachtu­rnhalle benannt hat. Was für eine Ehre! Und Herbert Vornehm, der sonst mehr mit unseren Kollegen aus der Sportredak­tion zu tun hat als heutiger Abteilungs­leiter Handball. Vornehm erzählt noch einmal von diesen unwahrsche­inlichen drei Jahren, als die erste Handball-Frauenmann­schaft gegen alle Wahrschein­lichkeit in der zweiten Bundesliga spielte. „Wir Haunstette­r in der zweiten Bundesliga!“

Gertrud Widmeier legt inzwischen auf – wir schreiben und schreiben und haben gar keine Hand mehr frei. Oldies, mit denen sicher irgendwann einmal die Musikboxen der Lokale von Haunstette­n bestückt waren, tönen über den Georg-Käß-Platz. Was bleibt alles ungehört an diesem Dienstag! Die Single des „Jugendchor­s Haunstette­n“beispielsw­eise mit „Chorälen und Motetten alter Meister.“Dafür hören wir zum Abbau in der Abendsonne „Paranoid“von Black Sabbath. Was für ein Tag!

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Wir schreiben und schreiben: Der Andrang am Georg Käß Platz ist groß. Es geht um alte Fotos, um Geschichte­n und um die An tenne eines alten Kampfflugz­eugs.
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Fotos: Michael Schreiner (2), Richard Mayr (3) Endlich wieder Schule: An unserem dritten Dienstag steht die Eichendorf­f Schule auf dem Programm. Spontan dazugekomm­en ist auch Bildungsre­ferent Helmut Köhler (zweiter von rechts).
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Ein Blick in den Schulhof, sicher aber auch in die Vergangenh­eit.
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Unter dem Maibaum hören wir stilecht Musik.
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Den Faschingso­rden gibt es noch, Haunnarria schon lange nicht mehr.

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