Fast wie im Traum
In Holland ist die Fahrradstadt Realität. Enge Gassen hindern die Entwicklung dort nicht, sie fördern sie. Geht das hier auch?
Nach dem Frühstück nehme ich die kleine Tochter an der Hand und wir spazieren los. Nach einigen hundert Metern ziehe ich mein Telefon aus der Tasche und entriegele per App eines von zehn Leihlastenrädern, die in meinem Wohnviertel verteilt sind. Reserviert hatte ich es schon vor zehn Minuten.
Meine Tochter steigt ein, ich stelle den Sattel auf meine Höhe ein, schalte den Motor an und wir fahren los. Unser Weg führt uns durch schmale Gassen, in welchen Autos verboten sind – über Brücken für Radfahrer und Fußgänger. Wir biegen ein letztes Mal ab: Die Ampel wird Grün und wir starten mit einem großen Schwarm Radfahrer, der mit uns wartete.
Die Fahrradstraße, auf der wir nun fahren, ist kein Lippenbekenntnis: Hier finden Sie keine Autos. Nicht einmal ein parkendes. Und wenn mal eines da ist, so ist es den Fahrer bewusst, dass er hier nur „zu Gast‘ ist.
Wir verbringen einen ganzen Tag in der Stadt, gehen schwimmen, einkaufen und trinken heiße Schokolade. Gegen Abend stellen wir das Rad wieder ab und gehen nach Hause. Morgen leihen wir es uns wieder, das steht schon fest. Und während wir schlafen, wird jemand den Akku gegen einen vollen austauschen.
Was hier wie eine innerstädtische Utopie klingt, ist nicht etwa eine Radfahrerversion von „Zurück in die Zukunft“. Es handelt sich um die vorherrschende Realität in niederländischen Städten.
Enge Gassen und historisch gewachsene Altstädte sind hier kein Argument gegen Rad-Infrastruktur, sondern der logische Grund. Auch hier wurde der Autoverkehr manches Jahrmüssten zehnt lang bis in die Innenstadt geleitet. Heute bietet eine Stadt wie Haarlem zahlreiche Beispiele des Rückbaus.
Bei meiner Fahrt durch die Stadt passiere ich eine Straße, welche die Fuggerstraße von morgen sein könnte. In der Mitte der ehemals mehrspurigen Straße zieht sich heute ein Grünstreifen, benachbart von einer Fahrspur, einem breiten Radweg und vereinzelten Parkplätzen. Bürgersteige wurden verbreitert und bieten Platz zum Verweilen. Deutlich wird hier, dass wir nicht länger so tun können, als wir Radverkehrsstrukturen neben der Infrastruktur für den Kraftverkehr errichten, sondern tatsächlich Platz neu verteilen müssen.
Klar, dass dies in einem Land ohne Automobilindustrie einfacher geht. Auch die holländische Mentalität gegenüber dem Rad, gepaart mit gesundem Pragmatismus, führt zu nutzerfreundlichen Lösungen.
Auch in Deutschland sprießen derzeit Lastenradverleihe in vielen Städten aus dem Boden. Häufig basieren diese jedoch auf einem System, bei dem das Rad bei einem Laden abgeholt und zurückgegeben werden muss.
In Haarlem jedoch konnte ich ein Pilotprojekt testen, bei dem das Lastenrad öffentlich zugänglich ist und somit 24 Stunden lang ausgeliehen werden kann. Die Räder sind in Wohngebieten verteilt, so dass das Fahrrad praktisch vor der Tür steht und man nach Benutzung keinen weiten Weg nach Hause hat. Für einen Moment grübele ich, ob mein eigener Fuhrpark wohl kleiner wäre, wenn ich nur 400 Meter zu einem Leihfahrzeug hätte. Schließlich ist das ein kürzerer Weg als der, den so mancher Autofahrer auf dem Weg zu seinem Parkplatz zurücklegen muss.
Sven Külpmann,
36, ist Vater zweier Kinder und lebt seit 14 Jahren autofrei. Als Lastenrad-Enthusiast berät er zu Möglichkeiten moderner Transporträder. Er macht derzeit, Sie ahnten es, Urlaub in Holland. *** Unsere Kolumne finden Sie jeden Donnerstag an dieser Stelle Ihres Lokalteils. Nächste Woche: „Mein Augsburg“mit typisch Augsburgerischen Ansichten und Geschichten.