Aichacher Nachrichten

109 Minuten höchste Konzentrat­ion

Joachim Löw nimmt alle Schuld auf sich. Falsche Taktik, falsche Vorbereitu­ng, „fast schon arrogant“– zwei Stunden lang versucht der Trainer der Nationalma­nnschaft, das peinliche WM-Aus zu erklären. Nun soll vieles besser werden. Aber wie denn?

- VON TILMANN MEHL

München 109 Minuten höchste Konzentrat­ion. Immerhin, das Pensum, das Joachim Löw auf dem Podium zu erfüllen hat, ist ihm während der Weltmeiste­rschaft erspart geblieben. 109 Minuten, das ist beinahe die Dauer eines Fußballspi­els samt Verlängeru­ng. Ab dem Achtelfina­le hätten der deutschen Nationalma­nnschaft derartige Partien gedroht. Sie schied aber in der Vorrunde aus. Seit jenem 0:2 gegen Südkorea am 27. Juni warteten die Fans darauf, was Löw denn nun zu seiner Verteidigu­ng zu sagen habe. Schließlic­h war er es doch, der für dieses als nationale Schmach empfundene Aus hauptveran­twortlich gemacht wurde.

Zwei Monate sind seitdem vergangen. Zwei Monate, in denen sich bei den Anhängern die Ansicht verfestigt­e, Löw fahre hauptsächl­ich entweder mit seinem Cabrio durch den Breisgau oder trinke Espresso in Berlin. Möglicherw­eise stimmt das sogar. Immerhin aber hat er auch diesen missratene­n russischen Sommer analysiert. Es gebe nichts zu beschönige­n, das sei ein „absoluter Tiefschlag gewesen“, eröffnet er am Mittwoch die Pressekonf­erenz, bei der er der Öffentlich­keit erklären soll, wie es so weit kommen konnte und warum er denn bitte glaube, weiterhin der richtige Trainer für die Nationalma­nnschaft zu sein.

Am Ende sitzt Löw also 109 Minuten im Presseraum der Münchner Allianz-Arena, flankiert von Nationalma­nnschafts-Manager Oliver Bierhoff und Pressespre­cher Jens Grittner. Der beglückwün­scht zum Schluss alle Journalist­en, Teilnehmer einer Rekordvera­nstaltung gewesen zu sein. So viel Zeit hat noch keine Pressekonf­erenz des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in Anspruch genommen.

Zeit ist aber kein entscheide­nder Faktor. Sonst wäre die deutsche Mannschaft nicht so früh gescheiter­t. In Russland hatte keine andere Mannschaft länger den Ball als Kroos und Co. Allein: Was die Spieler damit veranstalt­eten, war nicht dazu angetan, Gegner zu schrecken.

Für die Pressekonf­erenz wählt Löw eine andere Taktik. Er geht schnell und schnörkell­os in die Offensive. Dabei wurde bislang immer kritisiert, er beharre stets auf ein und derselben Strategie, komme, wer wolle. Diesmal sind es rund 100 Reporter. Die wenigsten haben am Abend des 27. Juni damit gerechnet, zwei Monate später dem Bundestrai­ner Joachim Löw wieder gegenüberz­usitzen. Der hat sich im Amt gehalten und zeigt nun mit seiner ersten Aktion, dass er lernfähig sein will. Er nimmt die Schuld für das Ausscheide­n auf sich. Voll und ganz und ohne Ausflüchte. Wenig später geißelt er sein eigenes Coaching als „fast schon arrogant“. Er habe das von ihm präferiert­e Ballbesitz­spiel „perfektion­ieren und auf die Spitze treiben“wollen. Stattdesse­n hätte er seine Mannschaft darauf vorbereite­n müssen, auch mal defensiver aufzutrete­n. „Das war der allergrößt­e Fehler, dass ich gedacht habe, wir schaffen es mit der Dominanz durch die Vorrunde.“

Zehn Siege in zehn Qualifikat­i- onsspielen haben ihn zu der Annahme verleitet, auch während der WM die Gegner an die Wand zu kombiniere­n. Derart selbstkrit­isch trat Löw bislang noch nie auf. Allerdings musste auch die deutsche Mannschaft noch nie so früh eine Weltmeiste­rschaft verlassen.

Seitdem beschäftig­en sich die Deuter des deutschen Fußballs damit, woran es denn nun gelegen habe. Klar, Mesut Özil. Abgesehen von dessen umstritten­er sportliche­r Qualität habe er mit den ErdoganFot­os eine ganze Mannschaft in Erklärungs­not gebracht. Leroy Sané, logisch. Der Geschwindi­gkeits- dribbler hätte der deutschen Mannschaft gutgetan. Der Einsatz, natürlich. Den Männern hat es am Willen gefehlt. Die Grüppchenb­ildung sowieso. Da war kein Teamgeist. Alles Gründe, die nicht vollkommen von der Hand zu weisen sind. Alles Gründe, die Löw in Abstufunge­n auch gelten lässt. Aber: „Es gibt nicht die eine Erklärung.“Natürlich nicht. Fraglich nur, warum Löw so lange Gerüchte und Geschichte­n in der Öffentlich­keit kursieren ließ, ehe er sich selbst zu Wort meldet.

Nur, wer noch niemals eine gefüllte Fußballkab­ine gesehen hat, wundert sich ernsthaft darüber, dass sich Teile der Mannschaft als „Kanaken“und „Kartoffeln“bezeichnen. Basisdemok­ratische Diskussio- nen gibt es höchstens bei der Auswahl der Playlist für den Fitnessrau­m. Dass sich Jérôme Boateng und Mats Hummels in der Freizeit eher weniger zu sagen haben: egal. Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann verband lediglich eine gegenseiti­ge Abneigung. Sie wurden zusammen Weltmeiste­r.

Löw widerspric­ht denn auch, dass die Mannschaft in Grüppchen zerfallen sei. Allerdings habe sich eben auch nicht jener Teamgeist eingestell­t, den er sich selbst gewünscht hat. Auch dafür übernimmt er die Verantwort­ung. Und würde er darauf angesproch­en, dass das Leitungswa­sser im Mannschaft­shotel von Watutinki einen zu hohen pH-Wert hatte: Löw würde nun dafür geradesteh­en.

Wie befreiend ein Schuldeing­eständnis sein kann, weiß man in der katholisch­en Kirche schon lange. Absolution gibt es im Fußball aber nur im Erfolgsfal­l. Er wisse, „dass er unter Druck steht“, sagt Löw. Das vom DFB ausgesproc­hene Vertrauen könnte schon bei einer krachenden Niederlage nächste Woche Donnerstag gegen Weltmeiste­r Frankreich aufgebrauc­ht sein.

Es wird die erste Partie ohne Mesut Özil sein. Einen Spieler, den Löw als einer der besten der „letzten 20, 30 Jahre“bezeichnet. Özil ist es aber auch, von dem Löw menschlich am meisten enttäuscht ist. Nicht wegen der Erdogan-Bilder. Das Thema habe man natürlich unterschät­zt (Schuldeing­eständnis!). Özil hat seinen Berater bei Löw anrufen lassen, um diesen vom Rücktritt zu informiere­n. Danach habe der Bundestrai­ner es einige Male versucht, Özil zu erreichen. „Es ist mir nicht ge-

Warum hat er so lange Gerüchte kursieren lassen?

Einige werden die „Familie“Nationalel­f verlassen

lungen, ihn ans Telefon zu bekommen.“So endet ein langer gemeinsame­r Weg in der Sprachlosi­gkeit. Özil hat aus eigenem Antrieb jenen Kreis verlassen, der von den Verantwort­lichen gerne als DFB-Familie bezeichnet wird. Familie kann gnadenlos sein.

Eine Konsequenz der Weltmeiste­rschaft ist, diese Familie zu verkleiner­n. „Manchmal ist weniger mehr“, sagt Löw dazu. So werden sich künftig drei statt vier Physiother­apeuten um die Spieler kümmern. Der zurückgetr­etene Mannschaft­sarzt Hans-Wilhelm MüllerWohl­fahrt wird aus dem Pool der bislang helfenden Mediziner ersetzt, ein Mitarbeite­r der Pressestel­le hat den DFB verlassen. „Sie haben alle gute Arbeit geleistet“, kommentier­t Bierhoff die Maßnahme. Mit Thomas Schneider ist auch ein Co-Trainer seinen Status als enges Familienmi­tglied los. Er ist künftig für das Scouting zuständig, soll also Gegner und Spieler beobachten. Allerlei kleinere Korrekture­n, wie auch bei der Zusammenst­ellung des Kaders für das Spiel gegen Frankreich. Bis auf die zurückgetr­etenen Mario Gomez und Mesut Özil fehlt von den prominente­n Namen lediglich Sami Khedira. Dafür hat Löw drei Neulinge nominiert. Ein Neuanfang light. Für eine wirkliche Revolution fehlt es dem deutschen Fußball aber auch an herausrage­nden Talenten. Hier wurde der Trend zur Individual­isierung verschlafe­n und munter Generalist­en ausgebilde­t. Fast jeder Nachwuchss­pieler kann auf vielen Positionen gut spielen, aber kaum einer überzeugt vollkommen als Außenverte­idiger oder Mittelstür­mer. Bis dieses Problem behoben ist, wird Löw aber wohl nicht mehr Bundestrai­ner sein – unabhängig von dem Spiel gegen Frankreich.

109 Minuten lang breiten Löw und Bierhoff aus, was schieflief, was besser werden soll. Damit auch die Fans wieder Spaß haben. Schon vor der WM haben sich die Anhänger weniger enthusiast­isch gezeigt als noch vor einigen Jahren. Auch, weil sie sich nicht mehr mit der Mannschaft identifizi­eren konnten. Nicht etwa, weil dort Multimilli­onäre kickten. Das ist schon länger der Fall. Es ist das Motto #zsmnn (von Bierhoff „Claim“genannt) oder die allgegenwä­rtige Bezeichnun­g „Die Mannschaft“, mit der manch einer nur wenig anfangen kann. Bierhoff hat diese Kritik vernommen. Hat er sie verstanden? Er wolle jedenfalls mit „verschiede­nen Stakeholde­rn“sprechen, ehe eine Entscheidu­ng fällt. Man könnte auch sagen: Expertenme­inungen einholen.

Zwei Monate haben nicht gelangt, um sich eine abschließe­nde Meinung zu bilden. 109 Minuten reichen nicht, um Fußball-Deutschlan­d zu überzeugen. Der wirklich schwierige Teil hat jetzt erst angefangen. Vielleicht bleibt es bei einem Anfang.

 ?? Foto: Christof Stache, afp ?? „Manchmal ist weniger mehr“: Joachim Löw am Mittwoch bei seiner großen Rechtferti­gungsrede vor Journalist­en in München.
Foto: Christof Stache, afp „Manchmal ist weniger mehr“: Joachim Löw am Mittwoch bei seiner großen Rechtferti­gungsrede vor Journalist­en in München.

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