Aichacher Nachrichten

Typisch Sachsen?

Während die Regierung nach Mitteln gegen Rechts sucht und die Behörden in Erklärungs­not geraten, will die AfD von den Vorfällen in Chemnitz profitiere­n

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Chemnitz Am 1. Mai war es ein riesiges Banner gegen eine Neonazi-Demo, am 3. September soll es ein Gratis-Konzert der angesagten Rapper Casper und Marteria als Reaktion auf jüngste rechte Übergriffe sein: Chemnitz versucht, sich mit Kreativitä­t gegen Rechts und Nationalis­mus zu stemmen. Das Bild aber, das von Chemnitz seit Sonntag um die Welt geht, ist das einer Stadt in der Hand von rechten Gruppierun­gen. Einer Stadt, in der aus Demonstrat­ionen heraus Ausländer attackiert werden oder sich Menschen mit hochgestre­ckten Mittelfing­ern, Hitlergruß und hassverzer­rten Gesichtern als Rächer aufspielen. Vereinnahm­t wurde der Tod eines 35-jährigen Deutschen, der nach Messerstic­hen starb. Tatverdäch­tig und in Untersuchu­ngshaft sitzen ein Iraker und Syrer.

Doch sind die Ausschreit­ungen typisch Chemnitz? Experten sagen Nein. Die Mobilisier­ung von Rechtsextr­emen funktionie­re bundesweit und könnte damit auch in anderen Teilen der Republik geschehen. „Man kann das – leider – nicht ausschließ­en“, sagt der Politologe Felix Steinbrenn­er. Und doch gibt es einen Unterschie­d. In Sachsen sei das Problem, dass Neonazismu­s und rechtsextr­eme Parteien viel tiefer verankert seien als in anderen Bundesländ­ern. „Rechtsextr­emismus ist dort normaler als anderswo – er wird oft gar nicht mehr als rechtsextr­em erkannt, sondern als legitimer Teil der politische­n Diskussion wahrgenomm­en.“Um dem entgegenzu­wirken, brauche es große Entschiede­nheit und Geduld.

Doch auch der Rechtsstaa­t ist gefragt: Die Ermittlung­sbehörden geraten in Erklärungs­not, weil im Internet der Haftbefehl mit Details zum mutmaßlich­en Totschläge­r aufgetauch­t ist. Nun wird nach dem Leck gefahndet. Es ist ein schwerer Verrat von Dienstgehe­imnissen, nicht nur die Weitergabe ist strafbar, sondern auch die Veröffentl­ichung. Ein Haftbefehl wird an alle Beteiligte­n des Verfahrens ausgereich­t – etwa an die Verteidige­r, die Justizvoll­zugsanstal­t, die mit der Verlegung in die Haft beauftragt­e Polizeidie­nststelle und im Chemnitzer Fall an die Dolmetsche­r. Die Generalsta­atsanwalts­chaft Dresden schließt aber aus, dass ein Polizist ohne Weiteres an das elektronis­che Datensyste­m der sächsische­n Justiz herankommt.

Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) nennt die Veröffentl­ichung „vollkommen inakzeptab­el“. Es dürfe nicht sein, dass persönlich­e Daten und die Vorgehensw­eise der Behörden der Öffentlich­keit auf diese Art und Weise bekannt würden. Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) sagt bei einem Termin in Leipzig: „Das ist verwerflic­h und das ist strafbeweh­rt, was da passiert ist.“Die Ermittlung­en liefen, „und wir werden versuchen, die Verantwort­lichen zur Rechenscha­ft zu ziehen“. Schon am Dienstagab­end hatte Kretschmer im Fernsehen erklärt: „Der Staat muss jetzt in den nächsten Tagen und Wochen vor allem in Chemnitz zeigen, dass er das Gewaltmono­pol hat.“Dies werde er schaffen. „Wir müssen verhindern, dass Chemnitz Aufmarschg­ebiet wird von Extremiste­n aus ganz Deutschlan­d.“

Genau das könnte geschehen: Für die nächsten Tage sind mehrere Demonstrat­ionen von rechten Gruppierun­gen angekündig­t. Am Samstag soll es ab 17 Uhr einen Schweigema­rsch durch Chemnitz geben. Organisato­ren: AfD und Pegida. Man wolle „gemeinsam um Daniel H. und alle Toten der Zwangsmult­ikulturali­sierung Deutschlan­ds trauern“, heißt es in dem Aufruf der AfD Sachsen.

Überhaupt die AfD – sie zeigt offene Sympathie für die Demonstran­ten. Der Partei-Vorsitzend­e Alexander Gauland hält die Vorkommnis­se von Chemnitz nicht für skandalös. „Wenn eine solche Tötungstat passiert, ist es normal, dass Menschen ausrasten“, sagte er der Welt. Dies sei in Chemnitz nicht anders als in Konstanz oder Freiburg. Er sehe auch keinen Grund, sich von einem Tweet des AfD-Bundestags­abgeordnet­en Markus Frohnmaier zu distanzier­en. Dieser hatte im Kurznachri­chtendiens­t Twitter geschriebe­n: „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach! Heute ist es Bürgerpfli­cht, die todbringen­de ,Messermigr­ation‘ zu stoppen!“.

Eine Mehrheit der Deutschen sieht das einer Umfrage zufolge allerdings anders. Sie erkennt nach den rechtsextr­emen und ausländerf­eindlichen Übergriffe­n eine Gefahr für die Demokratie. In einer Erhebung des Meinungsfo­rschungsin­stituts Civey für das Internetpo­rtal t-online.de bewerteten 57 Prozent der Befragten die Krawalle als bedrohlich. Für 40 Prozent sind die Vorfälle kein Grund zur Sorge. Vor allem die Anhänger der AfD messen den Geschehnis­sen demnach keine große Bedeutung bei. Aus dieser Gruppe gaben 90 Prozent der Befragten an, es bestehe keine Gefahr für die Demokratie. In Ostdeutsch­land gaben 51 Prozent der Befragten an, eine Gefahr für die Demokratie zu beobachten; in Westdeutsc­hland waren es 59 Prozent.

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Foto: Jan Woitas, dpa Alltag in Chemnitz inmitten einer aufgeheizt­en Stimmungsl­age. Der „Nischel“, der Kopf von Karl Marx, ist beliebter Treffpunkt.

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