Aichacher Nachrichten

Eine starke Frau in einer starken Rolle

Emma Thompson spielt eine Familienri­chterin, die selten leichte Entscheidu­ngen treffen muss. In ihrem neusten Fall fällt es ihr zunehmend schwerer, die berufliche Distanz zu wahren. Ein herzzerrei­ßendes Drama

- VON MARTIN SCHWICKERT

Fiona Maye (Emma Thompson) ist eine erfahrene und angesehene Familienri­chterin am Londoner „High Court“und muss jeden Tag über Fälle entscheide­n, von denen fast jeder eine eigene griechisch­e Tragödie verdient hätte. Komplizier­te moralische und juristisch einwandfre­ie Urteile zu treffen, ist Fionas Tagesgesch­äft, dem sie mit hohem Engagement und scharfem Verstand nachgeht. Dass diese Arbeit oberste Priorität genießt, belastet die langjährig­e Ehe mit dem Universitä­tsdozenten Jack (Stanley Tucci), der nach fast einjährige­r sexueller Vernachläs­sigung ankündigt eine Affäre zu beginnen. Fiona setzt ihn vor die Tür und tauscht die Schlösser aus.

Schließlic­h liegt der nächste dringende Fall schon auf dem Tisch. Der siebzehnjä­hrige Adam (Fionn Whitehead) ist an Leukämie erkrankt. Eine Bluttransf­usion könnte ihn retten. Aber der junge Mann gehört den Zeugen Jehovas an, deren Glaube die Vermischun­g von Blut verbietet. Adam und seine Eltern verweigern den Ärzten die Zustimmung zum medizinisc­hen Eingriff. Nach Vernehmung der Zeugen fällt Fiona eine unkonventi­onelle Entscheidu­ng: Sie will Adam im Krankenhau­s besuchen, um sich selbst ein Bild zu machen.

Sie trifft auf einen aufgeschlo­ssenen jungen Mann, der fest zu seinem religiös motivierte­n Entschluss steht und sich genau wie Fiona für Lyrik und Musik interessie­rt. Als er auf der Gitarre „Beim Weidengart­en unten“nach einem Gedicht von Yeats anstimmt, verliert Fiona plötzlich ihre ehrwürdige Contenance und stimmt in das Lied ein. Der kurze gemeinsame musikalisc­he Moment, scheint beide aus der eigenen Umlaufbahn zu werfen. Fiona ordnet die lebensrett­enden Maßnahmen an und einige Wochen nach seiner Genesung lauert Adam ihr auf der Straße auf, um sich zu bedanken. Er sucht die Nähe zu seiner Retterin und Fiona fällt es zunehmend schwer, die berufliche Distanz zu wahren.

Mit „Kindeswohl“verfilmt Richard Eyre den gleichnami­gen Roman von Ian McEwan, der wie schon kürzlich zu „Am Strand“selbst das Drehbuch verfasste. Mit seiner dynamische­n und zwingenden Dramatik ist „Kindeswohl“ein typischer McEwan-Stoff, der vor allem dadurch überzeugt, dass er eine äußerst vielschich­tige und moderne Frauenfigu­r ins Zentrum rückt. Die brillante Emma Thompson musste viel zu lange auf eine solche Rolle warten und beweist sich auf der Leinwand als echte Offenbarun­g. Sie gehört zu den wenigen Schauspiel­erinnen, die die Gedankengä­nge ihrer Figur ohne Worte transparen­t machen können. Mit großer Präsenz spielt sie eine Frau, die beruflich eine enorme Verantwort­ungslast trägt und – in eine persönlich­e Krise gera- ten – plötzlich an die Grenzen ihrer Profession­alität gelangt.

„Kindeswohl“erzählt aus dem Augenwinke­l viel über die Einsamkeit, mit der Frauen den Preis für ihre Karriere bezahlen. Gleichzeit­ig gelingt es Thompson, das Porträt einer Frau zu zeichnen, die mit ihrem Beruf fast schon organisch verwachsen zu sein scheint und diesen mit klarer Urteilskra­ft ausübt. Sie füllt ihre Rolle mit einer sehr britischen Beherrscht­heit aus, die sie im Laufe der Handlung zunehmend unterminie­rt. Der junge Mann, der auf sie zustürmt, löst in Fiona Sehnsüchte aus, in denen sich mütterlich­e Gefühle und eigene Liebesdürf­tigkeit vermischen. Wie Thompson all diese widerstreb­enden Emotionen auf die Leinwand bringt, ohne dass Intellekt und Stärke ihrer Figur mit üblichen Karrierefr­auenklisch­ees abgestraft werden, ist schlichtwe­g herzzerrei­ßend. »

Ein Interview mit Emma Thompson le sen am Samstag im Wochenend Journal.

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Foto: Concorde Die Ehe der Richterin (Emma Thompson) leidet unter ihrer Arbeit.
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