Eine Geschichtsstunde unter freiem Himmel
Wo sich in Haunstetten die Weltgeschichte spiegelt: Besuch in der „Ami-Siedlung“, die von Messerschmitt und der Nachkriegszeit geprägt wurde. Auf dem Georg-Käß-Platz verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart
Aus einer Ami Wohnung werden wieder zwei
Die Liste interessanter Orte in Haunstetten, die wir führen, wird immer länger: Naturfreibad, Muttergotteskapelle, Schießplatzheide, Fröbelschule, Helbig Wandmalereien, Hemm Schreib- und Spielwaren… Aber wann? Und wie? Immerhin einen weiteren Ort von der Liste lernen wir kennen: die Siedlung nördlich der Hofackerstraße. Wir haben daraus eine Exkursion gemacht, lassen den mobilen Schreibtisch unterm Maibaum zurück und starten den fünften Dienstag in der Messerschmitt-Siedlung. So haben wir es angekündigt, aber die Haunstetter, die kommen, weisen uns gleich darauf hin, dass die richtige Messerschmitt-Siedlung ein bisschen weiter nördlich sei. Das hier, das ist die „Ami-Siedlung“. Dort also setzt die Geschichtsstunde unter freiem Himmel ein, wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig lebhaft. Wir staunen wieder, wie sich die großen, auch tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts im Kleinen widerspiegeln.
Die Historikerin Katharina Roth führt zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Flugzeugbau der Messerschmitt AG boomt, die Siedlung für die Arbeiter entsteht. Der erste von fünf Abschnitten, in die sie die Geschichte der „Ami-Siedlung“eingeteilt hat. Plötzlich sind zwischen den beiden neuen Studentenwohnheimen an der Hofackerstraße, wo wir uns versammelt haben, Luftaufnahmen der Siedlung aus dieser Zeit zu sehen. Reinhold Forster, Historiker und Geschichtsvermittler, reicht sie herum. Er ist an diesem Dienstag nach Haunstetten gekommen, weil ihn das Thema interessiert – eine seiner Touren durch die Stadt führt durch die Messerschmitt-Siedlung.
Und weiter geht es mit der Geschichtsstunde: Nach dem Krieg müssen die Arbeiter ausziehen und sich eine neue Unterkunft suchen, um Displaced Persons Platz zu machen – vorwiegend aus Estland, Lettland und Litauen. Rund fünf Jahre dauert dieser Abschnitt, von dem am wenigsten bekannt ist. Vom Hörensagen ist das den Haunstettern, die gekommen sind, noch bekannt. Tiefe Spuren konnte die „Kolonie der baltischen Staaten“nicht hinterlassen, die meisten verließen Deutschland bald Richtung USA, Kanada und Australien.
Mit großer Beharrlichkeit hat der Kulturkreis Haunstetten Namen und Geschichten aus dieser Zeit recherchiert, wie Jutta Goßner, die Vereinsvorsitzende, erzählt. Und noch viel wichtiger: Der Kulturkreis hat den heutigen Eigentümer der Siedlung, die Igewo-Wohngesellschaft aus München, davon überzeugen können, die Geschichte von zwei Historikern erforschen zu lassen. Deshalb steht Katharina Roth jetzt hier, zwischen zwei neuen Studentenwohnheimen vor fünf Schautafeln, auf denen die Siedlungsgeschichte erklärt wird. Deshalb ist auch Ulrich Geßner, der Geschäftsführer der Igewo aus München, gekommen. Denn die Igewo hat als privatwirtschaftliches Unternehmen die Forschungsarbeit der Historiker finanziert und die Schautafeln aufstellen lassen.
Was da alles für Geschichten herausgekommen sind: Für die amerikanischen Unteroffiziere, die 1950 in die Siedlung kommen, sind die Wohnungen zu klein: Also legen sie je zwei zu einer großen Wohnung zusammen. Nach dem Auszug werden die Trennwände wieder eingezogen und die Fliegengitter müssen weg. Seit 2000 gehört die Siedlung zur Igewo, die plant, dort in zwei oder drei Jahren neue Wohnungen zu bauen – Nachverdichtung.
Während wir noch in der AmiSiedlung sind, herrscht zur gleichen Zeit am Georg-Käß-Platz schon wieder Hochbetrieb. Um Geschichte geht es natürlich auch. Siegfried Kreutzer will mit seiner Frau gleich noch eine schöne Runde mit dem Fahrrad drehen. Schlank und drahtig kommt er daher. Ein Magazin zur Ortsgeschichte hat er dabei, nur kurz zum Anschauen. Auf dem Cover: Kreutzer senior, Pionier des Fußballsports beim TSV, mit der ganzen Mannschaft. Schnell ist man im Gespräch – und auch bei ernsten Themen. 82 Jahre alt ist der junge Kreutzer heute, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Darum kann er sich auch noch an das alte KZ in Haunstetten an der Inninger Straße erinnern. Als Außenlager von Dachau ist es eines der größten im Reichsgebiet. Die Häftlinge müssen in den Messerschmitt-Werken Zwangsarbeit verrichten. „Wir haben an der Inninger Straße gewohnt. Die Häftlinge hatten alle nur so Holzpantoffeln an. Als Kind habe ich jeden Morgen gehört, wie sie die Inninger Straße runter gehen mussten und am Abend wieder zurück“, erinnert sich Kreutzer. „Mein Großonkel hat einem von denen einen Apfel zugesteckt. Darum ist er verhaftet worden“, klingt es vom anderen Ende des Schreibtischs her, den wir schon wieder verlängern müssen, weil längst nicht mehr alle Besucher Platz daran haben.
Kinder waren sie noch, diejenigen unserer Besucher, die diese Zeiten miterlebt haben. Und darum sei einem vieles Schlimmes nicht so zu Bewusstsein gekommen. Und dann gibt es ja noch andere Erinnerungen – und Erinnerungen an Erinnerungen. Wie an jenen Wintertag im Jahr 1928, an dem das Bild entstand, das Helga Stumber mitgebracht hat: Drei Bahnen der Straßenbahnlinie 4 sind da festlich geschmückt aufgestellt zur ersten Fahrt nach Augsburg. Davor: alle Schulkinder der Stadt, die an diesem Tag eine Freifahrt machen dürfen. Ziemlich weit rechts im Bild, vielleicht acht Jahre alt, mit hübschen Riemchenschuhen, Hut und Handtasche wie ganz viele der Mädchen: Stumbers Mutter und deren Schwester.
Ja, die Straßenbahn. So stolz war man darauf in Haunstetten. Und so viele Erlebnisse sind mit den ratternden Wagen der zwei Linien nach Haunstetten verbunden. In welcher Kurve man gefahrlos abspringen konnte; wie die Bahn auch mal auf der Strecke hielt, wenn man besonders schwere Sachen abladen musste; all das taucht wieder auf aus dem kollektiven Haunstetter Gedächtnis. Nur die Bahn, die hält wohl nie mehr vor St. Georg.
So viel wird an diesem Dienstag geredet von den Amerikanern: Wie man als Schulkind plötzlich einen Dollar hatte, weil man kurz den Handlanger gab für einen GI; oder wie man einst im Schlafanzug aus dem Krankenhaus ausbüxte, um mit einem Ami zwei Halbe im Grünen Baum zu heben. Die Amis schlichen immer da rum, um vielleicht eine der netten Krankenschwestern kennenzulernen. Da kommt man halt ins Gespräch – und auf solche Ideen. Zurück ging’s im Jeep…
Und plötzlich steht er da: Dennis Gallen, Amerikaner und heute Aushilfsmesner in St. Albert, Haunstetten. „Die haben gesagt, entweder Korea oder Germany.“So kam Gallen 1963 zum Militärdienst nach Augsburg. Da hat er ein „Frolein“getroffen und es mit nach America genommen. Weil America für das Frolein zwar ganz schön war, aber nix im Vergleich zu Augsburg, waren sie bald wieder da. Jetzt wohnen beide in Haunstetten. „Ich habe es keinen Tag bereut“, sagt Gallen.
An den Schreibtischen bietet sich ein beeindruckendes Bild: Ein vielstimmiger Chor hat sich dort versammelt, redet voller Leidenschaft. Irmgard Hirsch zum Beispiel hält ein Plädoyer für die Fröbelschule. 27 Jahre lang hat sie dort unterrichtet. Und Karl Sandner erzählt vom Tanzen beim Settele im Kerzenlicht. An Haunstettens Umschlagplatz für Geschichten verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart.
Ist das jetzt romantisch? Es ist auf jeden Fall ein Beleg dafür, dass unser Dienstagstreff auf dem GeorgKäß-Platz eine Kontaktbörse für Haunstetten ist. Ein Mann – bleiben wir diskret und nennen ihn einen häufigen Besucher – entdeckt am anderen Ende unseres Schreibtisches eine Frau. Ist das die…? Ja, könnte sie sein. „Auf die habe ich vor 40 Jahren ein Auge geworfen“, sagt er, steht auf und geht auf die
Ein Bild von der Frau aus Kalifornien taucht auf
Frau zu. Sie ist es. Später sagt der Mann: „Wer weiß, wenn’s was geworden wäre…“
Alles läuft an der großen Tafel zusammen, zu der unsere beiden mobilen Schreibtische geworden sind. Jahrzehnte überbrücken? Kein Problem. Plötzlich steht da ein Mann in rotem Poloshirt und mit weißem Schnauzer, fingert eine Fotografie aus einem Briefumschlag und sagt: „Die Frau aus Amerika, die Ihnen geschrieben hat – das ist sie.“Wie? Wer? Ach so: Waltraud Bayr, geborene Weithaler, die 1961 mit 20 aus Haunstetten nach Kanada ausgewandert war und inzwischen in Kalifornien lebt, von wo aus sie uns – von Erinnerungen an die Heimat gerührt – gemailt hatte, nachdem ihr Bruder ihr unsere Berichte vom Käß-Platz hatte zukommen lassen… Das Foto zeigt eine hübsche junge Frau in hellem Kleid, sie steht in der „Ami-Siedlung“und lächelt schüchtern in die Kamera. Alfred Schneider gehörte damals zu Waltrauds Clique. „Wir waren befreundet“, sagt er. Er hat noch ein weiteres Schwarz-Weiß-Foto dabei, das Waltraud Weithaler mit einer Freundin zeigt. „Das war die Frieda“, sagt Schneider, „die sind zusammen ausgewandert damals.“
Anknüpfen, weiterspinnen: An Tag fünf wird das Haunstetten-Netz noch engmaschiger. Vergangene Woche schrieben wir über den Künstler Christian Angerbauer, dessen Skulpturen in Haunstetten allgegenwärtig sind. Und nun kommt eine Frau zu uns mit einem großen gerahmten Aquarell. Es zeigt inmitten umliegender Häuser die Muttergotteskapelle von Haunstetten. Es ist ein echter Angerbauer von 1960. „Mein Vater“, sagt Rotraud Julier. Damals habe er noch mehr gemalt, was er später kaum noch konnte – zu viele Aufträge als Bildhauer, sagt die Tochter.
Der Soziologe Dr. Alexander Jungmann, der an der Uni Augsburg lehrt, kommt an diesem Dienstag von der Führung in der Ami-Siedlung mit zum Georg-Käß-Platz. Die angeregten Gespräche und Erzählungen dort faszinieren ihn. „Oral History“, das Erzählen von Zeitzeugen, könne man gar nicht hoch genug bewerten, sagt Jungmann. Einverstanden.