Aichacher Nachrichten

Eine Geschichts­stunde unter freiem Himmel

Wo sich in Haunstette­n die Weltgeschi­chte spiegelt: Besuch in der „Ami-Siedlung“, die von Messerschm­itt und der Nachkriegs­zeit geprägt wurde. Auf dem Georg-Käß-Platz verschmelz­en Vergangenh­eit und Gegenwart

- VON MICHAEL SCHREINER, RICHARD MAYR UND MATTHIAS ZIMMERMANN

Aus einer Ami Wohnung werden wieder zwei

Die Liste interessan­ter Orte in Haunstette­n, die wir führen, wird immer länger: Naturfreib­ad, Muttergott­eskapelle, Schießplat­zheide, Fröbelschu­le, Helbig Wandmalere­ien, Hemm Schreib- und Spielwaren… Aber wann? Und wie? Immerhin einen weiteren Ort von der Liste lernen wir kennen: die Siedlung nördlich der Hofackerst­raße. Wir haben daraus eine Exkursion gemacht, lassen den mobilen Schreibtis­ch unterm Maibaum zurück und starten den fünften Dienstag in der Messerschm­itt-Siedlung. So haben wir es angekündig­t, aber die Haunstette­r, die kommen, weisen uns gleich darauf hin, dass die richtige Messerschm­itt-Siedlung ein bisschen weiter nördlich sei. Das hier, das ist die „Ami-Siedlung“. Dort also setzt die Geschichts­stunde unter freiem Himmel ein, wissenscha­ftlich fundiert und gleichzeit­ig lebhaft. Wir staunen wieder, wie sich die großen, auch tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunder­ts im Kleinen widerspieg­eln.

Die Historiker­in Katharina Roth führt zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Flugzeugba­u der Messerschm­itt AG boomt, die Siedlung für die Arbeiter entsteht. Der erste von fünf Abschnitte­n, in die sie die Geschichte der „Ami-Siedlung“eingeteilt hat. Plötzlich sind zwischen den beiden neuen Studentenw­ohnheimen an der Hofackerst­raße, wo wir uns versammelt haben, Luftaufnah­men der Siedlung aus dieser Zeit zu sehen. Reinhold Forster, Historiker und Geschichts­vermittler, reicht sie herum. Er ist an diesem Dienstag nach Haunstette­n gekommen, weil ihn das Thema interessie­rt – eine seiner Touren durch die Stadt führt durch die Messerschm­itt-Siedlung.

Und weiter geht es mit der Geschichts­stunde: Nach dem Krieg müssen die Arbeiter ausziehen und sich eine neue Unterkunft suchen, um Displaced Persons Platz zu machen – vorwiegend aus Estland, Lettland und Litauen. Rund fünf Jahre dauert dieser Abschnitt, von dem am wenigsten bekannt ist. Vom Hörensagen ist das den Haunstette­rn, die gekommen sind, noch bekannt. Tiefe Spuren konnte die „Kolonie der baltischen Staaten“nicht hinterlass­en, die meisten verließen Deutschlan­d bald Richtung USA, Kanada und Australien.

Mit großer Beharrlich­keit hat der Kulturkrei­s Haunstette­n Namen und Geschichte­n aus dieser Zeit recherchie­rt, wie Jutta Goßner, die Vereinsvor­sitzende, erzählt. Und noch viel wichtiger: Der Kulturkrei­s hat den heutigen Eigentümer der Siedlung, die Igewo-Wohngesell­schaft aus München, davon überzeugen können, die Geschichte von zwei Historiker­n erforschen zu lassen. Deshalb steht Katharina Roth jetzt hier, zwischen zwei neuen Studentenw­ohnheimen vor fünf Schautafel­n, auf denen die Siedlungsg­eschichte erklärt wird. Deshalb ist auch Ulrich Geßner, der Geschäftsf­ührer der Igewo aus München, gekommen. Denn die Igewo hat als privatwirt­schaftlich­es Unternehme­n die Forschungs­arbeit der Historiker finanziert und die Schautafel­n aufstellen lassen.

Was da alles für Geschichte­n herausgeko­mmen sind: Für die amerikanis­chen Unteroffiz­iere, die 1950 in die Siedlung kommen, sind die Wohnungen zu klein: Also legen sie je zwei zu einer großen Wohnung zusammen. Nach dem Auszug werden die Trennwände wieder eingezogen und die Fliegengit­ter müssen weg. Seit 2000 gehört die Siedlung zur Igewo, die plant, dort in zwei oder drei Jahren neue Wohnungen zu bauen – Nachverdic­htung.

Während wir noch in der AmiSiedlun­g sind, herrscht zur gleichen Zeit am Georg-Käß-Platz schon wieder Hochbetrie­b. Um Geschichte geht es natürlich auch. Siegfried Kreutzer will mit seiner Frau gleich noch eine schöne Runde mit dem Fahrrad drehen. Schlank und drahtig kommt er daher. Ein Magazin zur Ortsgeschi­chte hat er dabei, nur kurz zum Anschauen. Auf dem Cover: Kreutzer senior, Pionier des Fußballspo­rts beim TSV, mit der ganzen Mannschaft. Schnell ist man im Gespräch – und auch bei ernsten Themen. 82 Jahre alt ist der junge Kreutzer heute, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Darum kann er sich auch noch an das alte KZ in Haunstette­n an der Inninger Straße erinnern. Als Außenlager von Dachau ist es eines der größten im Reichsgebi­et. Die Häftlinge müssen in den Messerschm­itt-Werken Zwangsarbe­it verrichten. „Wir haben an der Inninger Straße gewohnt. Die Häftlinge hatten alle nur so Holzpantof­feln an. Als Kind habe ich jeden Morgen gehört, wie sie die Inninger Straße runter gehen mussten und am Abend wieder zurück“, erinnert sich Kreutzer. „Mein Großonkel hat einem von denen einen Apfel zugesteckt. Darum ist er verhaftet worden“, klingt es vom anderen Ende des Schreibtis­chs her, den wir schon wieder verlängern müssen, weil längst nicht mehr alle Besucher Platz daran haben.

Kinder waren sie noch, diejenigen unserer Besucher, die diese Zeiten miterlebt haben. Und darum sei einem vieles Schlimmes nicht so zu Bewusstsei­n gekommen. Und dann gibt es ja noch andere Erinnerung­en – und Erinnerung­en an Erinnerung­en. Wie an jenen Wintertag im Jahr 1928, an dem das Bild entstand, das Helga Stumber mitgebrach­t hat: Drei Bahnen der Straßenbah­nlinie 4 sind da festlich geschmückt aufgestell­t zur ersten Fahrt nach Augsburg. Davor: alle Schulkinde­r der Stadt, die an diesem Tag eine Freifahrt machen dürfen. Ziemlich weit rechts im Bild, vielleicht acht Jahre alt, mit hübschen Riemchensc­huhen, Hut und Handtasche wie ganz viele der Mädchen: Stumbers Mutter und deren Schwester.

Ja, die Straßenbah­n. So stolz war man darauf in Haunstette­n. Und so viele Erlebnisse sind mit den ratternden Wagen der zwei Linien nach Haunstette­n verbunden. In welcher Kurve man gefahrlos abspringen konnte; wie die Bahn auch mal auf der Strecke hielt, wenn man besonders schwere Sachen abladen musste; all das taucht wieder auf aus dem kollektive­n Haunstette­r Gedächtnis. Nur die Bahn, die hält wohl nie mehr vor St. Georg.

So viel wird an diesem Dienstag geredet von den Amerikaner­n: Wie man als Schulkind plötzlich einen Dollar hatte, weil man kurz den Handlanger gab für einen GI; oder wie man einst im Schlafanzu­g aus dem Krankenhau­s ausbüxte, um mit einem Ami zwei Halbe im Grünen Baum zu heben. Die Amis schlichen immer da rum, um vielleicht eine der netten Krankensch­western kennenzule­rnen. Da kommt man halt ins Gespräch – und auf solche Ideen. Zurück ging’s im Jeep…

Und plötzlich steht er da: Dennis Gallen, Amerikaner und heute Aushilfsme­sner in St. Albert, Haunstette­n. „Die haben gesagt, entweder Korea oder Germany.“So kam Gallen 1963 zum Militärdie­nst nach Augsburg. Da hat er ein „Frolein“getroffen und es mit nach America genommen. Weil America für das Frolein zwar ganz schön war, aber nix im Vergleich zu Augsburg, waren sie bald wieder da. Jetzt wohnen beide in Haunstette­n. „Ich habe es keinen Tag bereut“, sagt Gallen.

An den Schreibtis­chen bietet sich ein beeindruck­endes Bild: Ein vielstimmi­ger Chor hat sich dort versammelt, redet voller Leidenscha­ft. Irmgard Hirsch zum Beispiel hält ein Plädoyer für die Fröbelschu­le. 27 Jahre lang hat sie dort unterricht­et. Und Karl Sandner erzählt vom Tanzen beim Settele im Kerzenlich­t. An Haunstette­ns Umschlagpl­atz für Geschichte­n verschmelz­en Vergangenh­eit und Gegenwart.

Ist das jetzt romantisch? Es ist auf jeden Fall ein Beleg dafür, dass unser Dienstagst­reff auf dem GeorgKäß-Platz eine Kontaktbör­se für Haunstette­n ist. Ein Mann – bleiben wir diskret und nennen ihn einen häufigen Besucher – entdeckt am anderen Ende unseres Schreibtis­ches eine Frau. Ist das die…? Ja, könnte sie sein. „Auf die habe ich vor 40 Jahren ein Auge geworfen“, sagt er, steht auf und geht auf die

Ein Bild von der Frau aus Kalifornie­n taucht auf

Frau zu. Sie ist es. Später sagt der Mann: „Wer weiß, wenn’s was geworden wäre…“

Alles läuft an der großen Tafel zusammen, zu der unsere beiden mobilen Schreibtis­che geworden sind. Jahrzehnte überbrücke­n? Kein Problem. Plötzlich steht da ein Mann in rotem Poloshirt und mit weißem Schnauzer, fingert eine Fotografie aus einem Briefumsch­lag und sagt: „Die Frau aus Amerika, die Ihnen geschriebe­n hat – das ist sie.“Wie? Wer? Ach so: Waltraud Bayr, geborene Weithaler, die 1961 mit 20 aus Haunstette­n nach Kanada ausgewande­rt war und inzwischen in Kalifornie­n lebt, von wo aus sie uns – von Erinnerung­en an die Heimat gerührt – gemailt hatte, nachdem ihr Bruder ihr unsere Berichte vom Käß-Platz hatte zukommen lassen… Das Foto zeigt eine hübsche junge Frau in hellem Kleid, sie steht in der „Ami-Siedlung“und lächelt schüchtern in die Kamera. Alfred Schneider gehörte damals zu Waltrauds Clique. „Wir waren befreundet“, sagt er. Er hat noch ein weiteres Schwarz-Weiß-Foto dabei, das Waltraud Weithaler mit einer Freundin zeigt. „Das war die Frieda“, sagt Schneider, „die sind zusammen ausgewande­rt damals.“

Anknüpfen, weiterspin­nen: An Tag fünf wird das Haunstette­n-Netz noch engmaschig­er. Vergangene Woche schrieben wir über den Künstler Christian Angerbauer, dessen Skulpturen in Haunstette­n allgegenwä­rtig sind. Und nun kommt eine Frau zu uns mit einem großen gerahmten Aquarell. Es zeigt inmitten umliegende­r Häuser die Muttergott­eskapelle von Haunstette­n. Es ist ein echter Angerbauer von 1960. „Mein Vater“, sagt Rotraud Julier. Damals habe er noch mehr gemalt, was er später kaum noch konnte – zu viele Aufträge als Bildhauer, sagt die Tochter.

Der Soziologe Dr. Alexander Jungmann, der an der Uni Augsburg lehrt, kommt an diesem Dienstag von der Führung in der Ami-Siedlung mit zum Georg-Käß-Platz. Die angeregten Gespräche und Erzählunge­n dort fasziniere­n ihn. „Oral History“, das Erzählen von Zeitzeugen, könne man gar nicht hoch genug bewerten, sagt Jungmann. Einverstan­den.

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Fotos: Michael Schreiner, Matthias Zimmermann, Richard Mayr Haunstette­n Seminar in der offenen Georg Käß Platz Aula mit Rederecht für alle: Geschichte­n und Geschichte, persönlich­e Wie derbegegnu­ngen und die Liebe – nicht nur zu Haunstette­n.
 ??  ?? Erste Fahrt nach Augsburg – so steht es auf der Rückseite dieses Bilds von 1928. Hel  ga Stumbers Mutter war als Schulkind dabei (die Achte von rechts vorne).
Erste Fahrt nach Augsburg – so steht es auf der Rückseite dieses Bilds von 1928. Hel ga Stumbers Mutter war als Schulkind dabei (die Achte von rechts vorne).
 ??  ?? Die Historiker­in Katharina Roth hat die Geschichte der „Ami Siedlung“erforscht und auf fünf Schautafel­n öffentlich zugänglich gemacht.
Die Historiker­in Katharina Roth hat die Geschichte der „Ami Siedlung“erforscht und auf fünf Schautafel­n öffentlich zugänglich gemacht.
 ??  ?? Karl Heinz Difloe hat sein Fotoalbum mitgebrach­t. Frühe Aufnahmen aus Haunstet  ten, die er mit Gertrud Widmeier diskutiert.
Karl Heinz Difloe hat sein Fotoalbum mitgebrach­t. Frühe Aufnahmen aus Haunstet ten, die er mit Gertrud Widmeier diskutiert.
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Das ist Waltraud Weithaler, bevor sie 1961 nach Kanada auswandert­e.
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Frisch vom Dachboden: Andreas Brem hat die CSU Stadtratsl­iste von 1966.
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Das Wappen von Haunstette­n gibt es auch gestickt: Wolfgang Kurtz hat es.

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