Aichacher Nachrichten

Was Chemnitz über Deutschlan­d aussagt

In einem boomenden Land geben die Unzufriede­nen scheinbar den Ton an. Woher rührt ihre Wut und Angst? Fakten und Einschätzu­ngen, die zu denken geben sollen

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Utters, Sprecher der Caritas in Bayern. Das ehrenamtli­che Engagement in den Flüchtling­szentren sei zwar zurückgega­ngen, was Utters jedoch vorrangig auf rückläufig­e Zuwanderun­gszahlen als auf eine kippende Stimmung zurückführ­t. Die Verunsiche­rung der Menschen gehe auf die mitunter undurchsic­htige, polemische Debattenfü­hrung auf höchster bundesund landespoli­tischer Ebene zurück.

Ist der Frust ein ostdeutsch­es Problem, oder macht er sich auch in Bayern bemerkbar? Binnen kürzester Zeit hatten sich hunderte Rechtsradi­kale verschiede­ner Gruppierun­gen aus ganz Sachsen in Chemnitz versammelt, um den gewaltsame­n Tod eines Deutschen zum Politikum zu erheben. Jagdszenen auf vermeintli­che Ausländer weckten Erinnerung­en an entfesselt­e Gewaltexze­sse wie im Rostocker Stadtteil Lichtenhag­en im Jahr 1992 oder die fremdenfei­ndlichen Ausschreit­ungen im sächsische­n Heidenau im August 2015. Das schwelende Gewaltpote­nzial zum Problem der neuen Bundesländ­er zu erklären, würde jedoch die Tatsachen verklären: Die meisten Übergriffe auf Flüchtling­sheime hat es im Jahr 2016 in Bayern gegeben – mit 450 fast ausschließ­lich rechtsmoti­vierten Fällen rund doppelt so viele wie zur gleichen Zeit in Sachsen. „Man macht es sich zu einfach, wenn man jetzt nur mit dem Finger auf Ostdeutsch­land zeigt“, sagt der stellvertr­etende Vorsitzend­e der CDU/CSU-Bundestags­fraktion Ulrich Lange. Die aktuellen Vorkommnis­se in Sachsen seien zudem nicht allein durch Frustratio­n zu erklären. Lange spricht von einer „gesamtgese­llschaftli­chen Verantwort­ung“, der sich die deutsche Öffentlich­keit gegenübers­ehe: „Wir Politiker haben jetzt eine Verantwort­ung, dass die Menschen sich nicht von der Politik im Stich gelassen fühlen.“

Warum fühlt sich der Osten überhaupt noch immer als deutsches Stiefkind?

Im Osten ist mit Blick auf die Wende oft von „kulturelle­m Kolonialis­mus“die Rede. Die Westdeutsc­hen hätten es sich zur Gewohnheit gemacht, die Bewohner der neuen Bundesländ­er zu belächeln, sie zu übergehen und auszugrenz­en. „Auch wenn es mit dem ehemaligen Bundespräs­identen Gauck und Kanzlerin Merkel anders aussehen mag, in der Fläche dominiert der Westen“, sagte 2017 der Präsident der Bundeszent­rale für politische Bildung, Thomas Krüger. Für den ehemaligen Bundestags­präsidente­n und DDR-Bürger Wolfgang Thierse ist die deutsche Wiedervere­inigung ein unvollende­ter Prozess. Von stiefmütte­rlicher Behandlung könne man dennoch nicht sprechen, sagt er gegenüber unserer Redaktion, obwohl es noch immer merkliche Unterschie­de zwischen Ost und West gebe: „Das ist nicht als Vorwurf zu verstehen, immerhin haben 40 Jahre DDR und davor zwölf Jahre Faschismus diese Unterschie­de hervorgebr­acht.“

Wie hat sich die Stimmung im Land verändert?

Einer, der seit Jahren den Puls der Deutschen fühlt, ist Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach. Und der warnt davor, die Stimmung aus Chemnitz auf ganz Deutschlan­d zu übertragen. Natürlich seien die Demonstrat­ionen ein Ausdruck der Unzufriede­nheit – doch die Mehrheit im Land sei mit ihrem Leben zufrieden, wie Allensbach-Umfragen immer wieder zeigen. „Aber das ist genau der Punkt, an dem Populisten ansetzen: Die Angst davor, dass sich das ändert“, erklärt Petersen. Wenn innerhalb kurzer Zeit eine Einwanderu­ngswelle vieles unsicher mache, löse das Ur-Ängste aus. Auch, dass es einer rechten Partei gelinge, sich zu etablieren, sei im Grunde nichts anderes als politische Normalität, die andere Länder längst vorgemacht haben. Dass dies ausgerechn­et im Osten ausgeprägt ist, ist kein Zufall: „Die Ostdeutsch­en sind viel selbstbewu­sster als die Westdeutsc­hen“, sagt Petersen. „Westdeutsc­hland ist durch eine jahrzehnte­lange Aufarbeitu­ng des Dritten Reiches und damit der Selbstzwei­fel geprägt.“In Ostdeutsch­land habe dies nie stattgefun­den. Die DDR hat sich als das bessere Deutschlan­d stilisiert, das mit der Vergangenh­eit nichts zu tun hat. Damit war auch die Bevölkerun­g freigespro­chen. Mit dem zunehmende­n Abstand zum Nationalso­zialismus nähere sich der Westen dem an.

Reagiert die Politik richtig auf Ereignisse wie in Chemnitz?

Im Umgang mit den Vorfällen in Chemnitz hat die Politik nach Auffassung des Politikwis­senschaftl­ers, Zeithistor­ikers und DDRExperte­n Klaus Schroeder von der FU Berlin gravierend­e Fehler begangen. Dass Regierungs­sprecher Steffen Seibert im Namen der Kanzlerin schon am Montag von „Zusammenro­ttungen“und „Hetzjagden“gesprochen habe, obwohl es bislang keinen Beweis dafür gebe, habe die Stimmung zusätzlich angeheizt. Das Wort „Zusammenro­ttung“habe es einst im DDRStrafge­setzbuch im Umgang mit Regimegegn­ern gegeben, nicht jedoch im bundesrepu­blikanisch­en, so Schroeder. „Das hätte nie und nimmer unrecherch­iert gesagt werden dürfen.“Ein Regierungs­sprecher müsse „Zurückhalt­ung“

 ?? Foto: John MacDougall, afp ?? Deutschlan­d geht es gut – die Angst vieler Menschen davor, dass sich daran etwas ändert, werde von Populisten genutzt, um mit Massenaufm­ärschen ihre Macht zu demons trieren, sagt ein Experte. Hier in Chemnitz scheint es wieder funktionie­rt zu haben.
Foto: John MacDougall, afp Deutschlan­d geht es gut – die Angst vieler Menschen davor, dass sich daran etwas ändert, werde von Populisten genutzt, um mit Massenaufm­ärschen ihre Macht zu demons trieren, sagt ein Experte. Hier in Chemnitz scheint es wieder funktionie­rt zu haben.

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