Rache ist keine geeignete Strategie
Je näher der Brexit rückt, umso mehr spielen beide Seiten mit Drohungen. Das aber bringt weder für die EU noch für die Briten eine Lösung des Problems
Unaufhörlich rückt der Brexit näher. Der ursprüngliche Zeitplan, bis zum EU-Gipfel im Oktober mit einem Vertragsentwurf fertig zu sein, ist nicht mehr zu halten. In Brüssel geht man bereits von einem Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs im November aus. Doch selbst diese Perspektive wird inzwischen nur noch von Optimisten vertreten. Briten und Europäer kommen sich nicht nur nicht näher, sie treten auf der Stelle. Dass beide Seiten inzwischen Szenarien einer „No Deal“Katastrophe an die Wand malen, zeigt, wie weit man gekommen ist. Dumpfe Vorahnungen sollen mehr beeindrucken als sachliche Argumente. Schuld sind wohl beide Parteien.
Tatsächlich ist die britische Hoffnung, die geschlossene Front der 27 bisherigen Familienmitglieder aufbrechen zu können, gescheitert. Brüssel aalt sich fast schon siegessicher in dieser Einigkeit, die selten genug ist. Dabei hat die Kluft viel mit gegenseitigen Missverständnissen zu tun – vielleicht auch eher mit einem Mangel an Sensibilität. Als Londons Premierministerin Theresa May vor der Sommerpause ihren Plan einer Zollunion mit der Gemeinschaft aus dem Hut zauberte, erkannte Brüssel sofort, dass dieses Papier nichts anderes war als der Versuch, die Vorteile der Mitgliedschaft zu erhalten, ohne die damit verbundenen Pflichten wie der Freizügigkeit zu akzeptieren. Fatal daran blieb, dass London damit genau genommen die Geschäftsgrundlage änderte: Fortan konnten die Briten sich als diejenigen inszenieren, die einen Vertrag wollen, während die Europäer angeblich keinen Deal zulassen. Für beide sitzen die Schuldigen auf der jeweils anderen Seite des Tisches. Nun gilt eine solche Verhandlungsstrategie in der Diplomatie als üblich: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Alle wissen, dass Zugeständnisse nötig sind.
Allerdings dürfte Europa in der besseren Position sein. Denn auch wenn es fatale ökonomische Folgen auf beiden Seiten des Kanals geben wird, so täte sich die 27er-Union doch leichter, die Konsequenzen abzufedern. Das kann kein Trost sein – und schon gar keine Lösung. Die wird es aber nicht geben, wenn sich die EU wie eine Siegermacht aufführt, die die Bedingungen diktiert und dabei von Rachegedanken nicht völlig frei ist. Europa kann und darf nicht so tun, als könne man den Abschied eines Landes, das 15 Prozent zur Wirtschaftsleistung der Union beigetragen hat, mit einem Achselzucken verschmerzen. Wenn am Tag eins nach dem Brexit der Warenverkehr tatsächlich zum Erliegen käme, weil alle bisherigen Lizenzen und Importbestimmungen nicht mehr gelten, lässt sich das nicht allein dem Vereinigten Königreich in die Schuhe schieben. Sollte dieser Fall eintreten, hätte auch die Europäische Kommission als Verhandlungsführer versagt. „No Deal“, kein Vertrag, darf schlicht keine Variante sein. Die EU ist ebenso zum Erfolg verdammt wie London, um negative Folgen so gering wie möglich zu halten.
Dass Brüssel mit Feuereifer seine Errungenschaften und die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes verteidigt, steht dem nicht entgegen. Im Gegenteil. Das stetig wiederholte Glaubensbekenntnis zum freien Welthandel und zu einem dichten Netz von Partnern in aller Welt gilt auch für die Insel.
Die EU muss allerdings dazulernen. Nicht nur in Deutschland pflegt man den Gedanken, dass der Brexit noch wie durch ein Wunder abgewendet werden könne – das ist eine Illusion. Weder die europäischen Verträge noch die politische Realität in Großbritannien geben dafür irgendeinen Spielraum her. Brüssel hat recht: Großbritannien muss sich bewegen. Aber London hat auch recht: Die EU muss an einer Lösung mitarbeiten.
Der Brexit wird nicht wie durch ein Wunder abgewendet