Aichacher Nachrichten

Die Italiener, die keine sein wollen

Landtagswa­hl Vor 100 Jahren wurde Südtirol von Österreich abgespalte­n. Noch immer hadern dort viele Menschen mit dieser Entscheidu­ng. Nun stellt die Wiener Regierung ihnen einen österreich­ischen Pass in Aussicht. Die Separatist­en wittern ihre große Chance

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Bozen Die letzte Ansprache ist gehalten, da erheben sich die Menschen im Saal von ihren Stühlen. Die Bläser der Stadtkapel­le Bozen stimmen die inoffiziel­le Tiroler Landeshymn­e an. Hand aufs Herz, dann dringt es zu zünftiger Marschmusi­k aus hundert ergriffene­n Kehlen: „Du bist das Land, dem ich die Treue halte, weil du so schön bist, mein Tirolerlan­d. Ein harter Kampf hat dich entzweiges­chlagen, von dir gerissen wurde Südtirol.“Es ist der Parteitag der Südtiroler Freiheit. Die auf italienisc­hem Staatsgebi­et stets von Österreich träumenden Separatist­en stimmen sich auf die Landtagswa­hl an diesem Sonntag ein. Schon im Eingangsbe­reich im Bozner Schloss Maretsch wird die unzweideut­ige Linie der Partei klar. Neben einem Korb mit hellgrünen Äpfeln, der wohl auch als politische­s Statement für Heimatverb­undenheit gelesen werden soll, können sich die Besucher mit Aufklebern und sonstigem Werbemater­ial eindecken. Die Sticker mit den Slogans „Freiheit für Südtirol“oder „Los von Rom“gehen am schnellste­n weg. Man könnte den Eindruck gewinnen, ein stolzes und unbeugsame­s Volk würde hier von einer despotisch­en Clique unterdrück­t.

So ähnlich stellen es einige Redner an diesem Tag auch dar. „Im Grunde sind wir in Gefangensc­haft“, behauptet die Landtagsab­geordnete Myriam Atz Tammerle. Eva Klotz, die wie ihre Vorredneri­n im Tiroler Dirndl auf die Bühne getreten ist, spricht vom „Kampf“gegen Rom. „Unser Land ist nur sicher, wenn es unabhängig ist von Italien“, sagt sie und fügt hinzu, dass man sich für seine Vergangenh­eit nicht schämen müsse. Diese Feststellu­ng hat einen besonderen Klang, wenn man bedenkt, dass der Vater der 67 Jahre alten Parteigrün­derin in den 1960er Jahren ein führendes Mitglied des Befreiungs­ausschusse­s Südtirol war. Der BAS war eine Terrororga­nisation, die die Abtrennung Südtirols von Italien mit tödlichen Bombenatte­ntaten voranzutre­iben versuchte.

100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, der zur Folge hatte, dass Südtirol von Österreich abgespalte­n und Italien zugeschlag­en wurde, scheint in der Region einiges zusammenzu­kommen: wachsender Separatism­us wie andernorts in Europa, Angst vor Überfremdu­ng, populistis­che Regierunge­n in Rom und (teilweise) Wien sowie die ewige Frage, wie mit einer traumatisc­hen Vergangenh­eit am besten umzugehen ist. Besonders wichtig für die selbst ernannten Freiheitsk­ämpfer ist die Rechts-Koalition in Wien. Österreich bezeichnet sich heute noch als „Schutzmach­t“Südtirols. Der völkerrech­tliche Streit um das Land mit Italien ist zwar seit 1992 offiziell beigelegt, seither sind auch die weitreiche­nden Autonomier­echte Südtirols verwirklic­ht. Aber seit Monaten sorgt der Plan der ÖVP/ FPÖ-Regierung, den deutsch- und ladinischs­prachigen Südtiroler­n neben dem italienisc­hen auch den österreich­ischen Pass zu geben, für Unruhe. Dass Wien zwischenze­itlich sogar drohte, die symbolbela­dene Brennergre­nze zu schließen, um Flüchtling­e abzuhalten, hat die Lage nicht gerade entschärft.

„Für uns ist ein historisch­es Zeitfenste­r aufgegange­n“, sagt Sven Knoll, der im Trachtenja­nker gekommene Fraktionsv­orsitzende im Bozner Landtag. Knoll ist das schneidige Gesicht der Bewegung, die ganz selbstvers­tändlich „Volkstumsp­olitik“betreibt, eine in Südtirol immer noch sehr gängige Kategorie. Der Doppelpass ist das politische Instrument der Stunde, er ist für Knoll ein erster Hebel, um die Autonomie zu überwinden und letztlich zum großen Ziel der Selbstbest­immung zu gelangen. „Sind wir als ethnische Minderheit in Italien sicher?“, fragt er. Von diesem Staat hätten sich seine Landsleute gar nichts zu erwarten. Drei von 35 Abgeordnet­en stellt die Südtiroler Freiheit bisher im Landtag. Es könnten mehr werden ab Sonntag.

Vor allem die junge und ländliche Bevölkerun­g zeigt sich empfänglic­h für das Salz, das die Separatist­en in die nie ganz verheilten Wunden der Vergangenh­eit streuen. Angereiche­rt wird dieses emotionale Amalgam mit der Angst vor Fremden, obwohl die rund 530000 Südtiroler derzeit gerade einmal 1500 Asylbewerb­er beherberge­n müssen. Man müsse heute auf alles Rücksicht nehmen, auf „Multikulti“, aber die Sprache und Kultur, also die deutsche, gerate in Vergessenh­eit, schimpft eine Sitzungste­ilnehmerin. Wer hier wen diskrimini­ert, ist nicht immer ganz klar.

Das auf dem Trauma der nie verwundene­n Abspaltung von Österreich gründende Südtiroler Lamento klingt so: In Ämtern, bei Gericht, in Arztpraxen werde immer häufiger nur Italienisc­h gesprochen, obwohl die deutsche Sprache der Italienisc­hen offiziell gleichgest­ellt ist. Auch sei man der Unberechen­barkeit Italiens, gerade in Finanzange­legenheite­n, ausgeliefe­rt, lautet ein anderes Argument, das nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen ist.

Der Grenze zwischen echten historisch­en Verletzung­en und ihrer politische­n Instrument­alisierung verschwimm­t allerdings. Die Zwangsital­ianisierun­g zur Zeit des italienisc­hen Faschismus, aber auch vom Deutschen Reich unter Hitler geplante und umgesetzte Massenumsi­edlungen sowie schließlic­h der Bombenterr­or, der trotz der Autonomie-Verhandlun­gen bis in die 1980er Jahre anhielt, schwingen weiter mit im Untergrund der Südtiroler Seele. Die Separatist­en benutzen die Unterdrück­ung vor über 70 Jahren als bevorzugte Klaviatur. Anderersei­ts kann man auch den Eindruck gewinnen, großen Teilen der Politik und der Bevölkerun­g wäre es am Liebsten, die Vergangenh­eit endlich mal Vergangenh­eit sein zu lassen.

Hannes Obermair spricht in diesem Zusammenha­ng vom „geeigene schichtsbl­inden Südtirol“. Der Historiker steht in der Abenddämme­rung am Bozner Gerichtspl­atz. Fledermäus­e sausen waghalsig an den Monumental­bauten aus der Mussolini-Zeit vorbei. Hier, vor dem ehemaligen Lokalbüro der Faschistis­chen Partei Italiens, sorgten Sven Knoll und Eva Klotz vor Jahren für einen Eklat, als sie Italien symbolisch mit Besen aus Südtirol hinauskehr­ten. Der Kassations­gerichtsho­f in Rom bestätigte vergangene­s Jahr ihre Verurteilu­ng wegen „Schändung der italienisc­hen Flagge“. Jahrelang benutzten Südtiroler Nationalis­ten Orte wie den Gerichtspl­atz oder das Siegesdenk­mal, um ihren Opfermytho­s zu pflegen. „Ohne Not überlässt die kollektive Verdrängun­g die Deutungsho­heit den patriotisc­h-konservati­ven Gruppierun­gen“, findet Obermair, obwohl 100 Jahre nach Kriegsende ja durchaus Anlass zur Analyse bestehe.

Obermair ist sich sicher, dass die Schemata von (italienisc­hen) Tätern und (deutsch-österreich­ischen) Opfern einer Aufarbeitu­ng im Weg stehen. „Man muss von der SchwarzWei­ß-Malerei wegkommen“, sagt der 57-Jährige. Wie das gehen kann, hat der Historiker zusammen mit anderen Kollegen gezeigt. Im jahrzehnte­lang instrument­alisierten Siegesdenk­mal in Bozen schuf Obermair ein aufschluss­reiches Dokumentat­ionszentru­m zur faschistis­chen, aber auch nationalso­zialistisc­hen Diktatur in Südtirol. Am Gerichtspl­atz ließ die Stadtverwa­ltung ein Monumental­relief am ehemaligen Parteigebä­ude von Künstlern und Historiker­n in ein Mahnmal verwandeln. „Niemand hat das Recht zu gehorchen“, mit diesen Worten leuchtet dort nun ein an Hannah Arendt angelehnte­s, absurd anmutendes Mantra in Neonletter­n. „Wir haben den Nationalis­ten ihr Spielzeug weggenomme­n“, sagt Obermair. Aber das beredte Schweigen der großen Mehrheit zu den historisch­en Traumata überzeugt ihn nicht. Es ist ein Schweigen, in dem die lautesten Schreie besonders schrill zu vernehmen sind.

Südtirol geht es gut. Auch das trägt zu einer gewissen Gemütlichk­eit bei, in der sich Nationalis­ten leichter Gehör verschaffe­n können. Knapp 90 Prozent aller Steuern bleiben im Land, so sieht es das Autonomies­tatut vor. Von einer armen Bergregion hat sich Südtirol in die Rangliste der 20 wohlhabend­sten Regionen Europas vorgearbei­tet, in Italien steht man an der Spitze. Wohlstand macht müde, weiß auch Luis Durnwalder, eine Art FranzJosef Strauß Südtirols. 25 Jahre lang war er Landeshaup­tmann, er tut sich ein bisschen schwer mit dem Ruhestand, das merkt man. Seine christdemo­kratische Südtiroler Volksparte­i (SVP) ist immer noch die tonangeben­de politische Kraft im Land, verliert aber immer mehr an Zuspruch. „Wissen Sie, ich bin Jäger“, sagt Durnwalder beim Treffen in einem Bräustüber­l bei Meran. „Wenn die Gämsen ruhig auf der Alm grasen, dann ist kein Adler oder Wolf in der Nähe. Wenn sie aber zu ruhig sind, merken sie gar nicht mehr, wenn Gefahr droht.“

So sei es auch mit den Südtiroler­n. Die Adler und Wölfe sind für Durnwalder dabei weniger die heimischen Nationalis­ten, auf die man immer ein bisschen Rücksicht nehme, der alten Gefühle wegen. Die Raubtiere säßen auch in Rom. „Als Minderheit

„Für uns ist ein historisch­es Zeitfenste­r aufgegange­n.“Politiker Sven Knoll

„Man muss von der SchwarzWei­ß-Malerei wegkommen.“

Historiker Hannes Obermair

in Italien muss man die Autonomie immer wieder mit besonderem Einsatz verteidige­n“, sagt er. Der brisante und vor allem in Rom als Affront aufgenomme­ne Doppelpass-Vorschlag Österreich­s lässt ihn eher kalt. „Ich kann mit oder ohne leben, mir ist das gleich.“Fakt ist aber auch: Die SVP des heutigen Landeshaup­tmanns Arno Kompatsche­r, zuvor Bürgermeis­ter der Friedberge­r Partnergem­einde Völs am Schlern, ist für den Doppelpass, trägt die Forderung aber eher verschämt vor sich her.

Dass die derzeitige Schnappatm­ung der Separatist­en nicht flächendec­kend ankommen muss, wird auch bei einer Podiumsdis­kussion in Schlanders deutlich. Der Saal im Kulturzent­rum ist rappelvoll, die lokalen Kandidaten stellen sich vor. Die Zuschauer dürfen per Smartphone die Themen mitbestimm­en. Der Doppelpass kommt erst weiter hinten. Vorne liegen Probleme, die die Menschen im Vinschgau ganz besonders bewegen. Der zunehmende Verkehr, die Zukunft des Krankenhau­ses. Von Sehnsucht nach Österreich kann an diesem Abend nicht die Rede sein.

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Fotos: Max Intrisano Hoffen auf die österreich­ische Staatsbürg­erschaft: ein Besucher des Parteitage­s der „Südtiroler Freiheit“in Bozen.
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