Sie hilft den Vergessenen
Interview Doris Singer-Schollenberg gibt Opfern von Straftaten professionelle Hilfe, wenn sie vor Gericht ihren Peinigern begegnen. Warum das bisher kaum jemand in Anspruch nimmt
Frau Singer-Schollenberg, Sie sind psychosoziale Prozessbegleiterin. Darunter kann man sich erst einmal wenig vorstellen.
Doris Singer-Schollenberg: Es ist tatsächlich ein recht unverständlicher Fachbegriff, mit dem die Meisten wohl nichts anfangen können. Seit Januar 2017 ist es bundesweit gesetzlich verankert, dass Opfer sexueller Gewalt und anderer schwerer Straftaten vom Gericht eine psychosoziale Prozessbegleitung beigeordnet bekommen. Auch deren Angehörige können das beantragen. Sie werden dann vor, während und nach dem Prozess speziell betreut. Das ist für sie kostenlos.
Das heißt, das Gericht entscheidet, wer diese Begleitung bekommt. Oder kann sich jeder darum bemühen? Singer-Schollenberg: Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf. Bei Erwachsenen braucht es eine „besondere Lebenslage“. Wenn jemand eine Behinderung oder eine psychische Erkrankung hat, schwanger ist oder kleine Kinder hat, dann bekommt er oder sie das auch. Das wird aber noch viel zu wenig wahrgenommen.
Wie meinen Sie das? Singer-Schollenberg: Es gibt immer wieder Prozesse, wo zum Beispiel schwerer Missbrauch verhandelt wird und die Opfer keine Begleitung haben. Sie müssen oft alleine aussagen. Die Prozessbegleitung wäre da immer dabei, sie darf nicht aus dem Saal geschickt werden. Eltern können zum Beispiel durchaus vom Richter nach draußen geschickt werden, wenn sie zum Beispiel danach noch vernommen werden. Außerdem sind Angehörige oft selbst sehr aufgewühlt.
Und was ist dann Ihre Aufgabe? Sprechen Sie mit dem Opfer über den Fall? Singer-Schollenberg: Nein, das soll man eben nicht. Ich weiß natürlich grob, um was es geht. Aber die Details besprechen wir nicht. Betroffene müssen das Erlebte ja auch so immer wieder durchleben, auch dann vor Gericht. Bei mir geht es rein um das Begleiten durch das Gerichtsverfahren. Ich erkläre die Abläufe, welche Rechte die Beteiligten haben. Es geht darum, dass die Opfer jemanden an der Hand haben, der ihnen sagt, was zu tun ist. Der Ruhe reinbringt. Ich begleite sie zum Beispiel auch zur Aussage bei der Polizei. Wichtig ist auch, was hinterher passiert. Wenn es zum Beispiel einen Freispruch gibt, weil es ihm nicht zweifelsfrei nachzuweisen ist, dann ist das für die Betroffenen und ihre Angehörigen oft schwer auszuhalten. Dann kann ich ihnen erklären, dass im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden muss. Ich berate sie dann auch nach dem Urteilsspruch, zum Beispiel in Sachen Therapiemöglichkeiten.
Wer lässt sich von Ihnen begleiten? Singer-Schollenberg: Meistens sind es Kinder und Jugendliche. Einfach weil in diesem Bereich die Hilfe noch etwas bekannter ist. Aber ich hatte zum Beispiel auch schon eine Frau, die in einem Altenheim missbraucht worden ist.
Wie verarbeiten die Opfer solche Taten?
Singer-Schollenberg: Sie sind natürlich oft traumatisiert. Gerade für Kinder bricht da eine Welt zusammen. In ihrer Vorstellung von Gut und Böse ist da auf einmal ein Riss. Oft sind die Täter ja aus dem persönlichen Umfeld. Manche entwickeln dann Verhaltensauffälligkeiten, andere lassen in der Schule stark nach. Besonders schlimm wird es dann, wenn die Aussage vor Gericht bevorsteht. Deshalb wird es den Tätern auch positiv angerechnet, wenn sie durch ein Geständnis den Opfern dieses Leid ersparen.
Und wie gehen Sie selbst damit um, wenn Sie solche Schicksale mitbekommen?
Singer-Schollenberg: Da hilft mir meine Berufserfahrung. Ich habe
schon viel mitbekommen in meiner Karriere. Und durch meine Ausbildung verstehe ich besser, wie es vermutlich den Opfern geht. Aber ich weiß auch, wie Täter zu Tätern werden und wie Traumata entstehen. Das hilft ungemein. Ich habe mich nicht daran gewöhnt, das wäre das falsche Wort. Aber ich kann gut damit umgehen. Der Austausch mit Kollegen ist zur Bewältigung auch enorm wichtig, wenn einem doch mal ein Fall nahegeht.
Können Sie da auch ein Beispiel nennen?
Singer-Schollenberg: Das war der erste Fall, den ich beobachtet habe. Es war ein Junge, der vom besten Freund der Familie missbraucht wurde. Der hat dann geschildert, wie schlecht es ihm gegangen ist, weil er sich nicht getraut hat, etwas zu sagen. Es war schließlich der beste Freund. Die Familie war total fertig und das hat der Junge vorher
schon geahnt. Schlimm war auch der Fall einer Frau, deren Sohn ermordet wurde. Der Täter hat der Mutter gesagt, dass er das wieder tun würde. Da ist man dann selbst auch sprachlos.
Warum wird diese wichtige Arbeit bisher von so wenigen Betroffenen in Anspruch genommen? Singer-Schollenberg: Ich decke ja gemeinsam mit meiner Kollegin Christina Übele ganz Südschwaben ab. Eigentlich müssten wir überrollt werden. Tatsache ist aber, dass wir immer noch selten beigeordnet werden. Ich denke, dass es da gerade bei Behörden noch eine Informationslücke gibt. Viele Betroffene gehen direkt zur Polizei oder zum Rechtsanwalt. Die müssten eigentlich auf uns verweisen.
Und warum tun sie das nicht? Singer-Schollenberg: Der Fokus liegt in solchen Fällen immer auf dem
Täter. Die Opfer rutschen unten durch. Man denkt mal kurz „Ja wie geht’s dem wohl?“und dann ist der Blick wieder auf dem Täter. Vor Gericht muss das so sein, das ist schon klar. Und deshalb gibt es ja uns, die den Blick auf das Opfer haben. Das Gesetz ist auch relativ neu und das System ist eher träge. Aber in zehn Jahren sieht es hoffentlich anders aus. Doris Singer-Schollenberg hat Sozialpädagogik in Landshut studiert und arbeitet in der Psychiatrie des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Die Obergessertshauserin hat in der Familienberatung und einer Beratungsstelle für Opfer sexueller Gewalt gearbeitet und eine Traumafachberatung absolviert. Seit 2017 ist sie freiberufliche psychosoziale Prozessbegleiterin und zuständig für den Raum Günzburg, Augsburg, Kempten und Kaufbeuren.