Missbrauch: Mutter freigesprochen
Justiz Eine 42-Jährige soll sich an ihrem Sohn vergangen haben. Doch das Gericht zweifelt an der Glaubwürdigkeit des Opfers. Bei der Urteilsverkündung bricht die Angeklagte zusammen
Aalen Für die angeklagte Mutter müssen die Sekunden vor der Urteilsverkündung die aufreibendsten gewesen sein. Als der Richter die Entscheidung des Schöffengerichts verkünden will, sinkt die 42-Jährige völlig entkräftet zu Boden. Sie hört nicht einmal mehr, wie der Richter seinen Satz beendet und der Prozess wegen sexuellen Missbrauchs für sie endet, dessen Geschichte im Herbst 2015 beginnt – gut vier Jahre, nachdem ihr geistig behinderter Sohn wegen Kindeswohlgefährdung zu einer Pflegefamilie gebracht wurde.
Es war die Panikattacke des inzwischen 19-jährigen Opfers während eines Schulausflugs, die Lehrer und Pflegevater 2011 stutzig machten. Der Bub rannte völlig aufgelöst weg, als die Klasse zufällig auf die Mutter traf, er schrie, war nicht zu beruhigen, kauerte sich in der Ecke eines Restaurants zusammen.
Einige Tage später erzählte der junge Mann im Wohnzimmer des Pflegevaters plötzlich das, weshalb die Staatsanwaltschaft Ellwangen ihre Ermittlungen startete. Er soll Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter gehabt haben. Daraufhin konsultierte der Pflegevater einen Psychologen in Nördlingen, es kam zu Gesprächen mit dem Klassenlehrer, und dem Jugendamt, das letztlich die Mutter anzeigte. In einer Videovernehmung schilderte der Bub 2016 auf Nachfrage zwei der mutmaßlichen Missbrauchsfälle, die die Staatsanwaltschaft später zeitlich einordnete: Im Alter von drei Jahren soll die Frau ihren Sohn missbraucht haben. 2011, als er wegen eines Versehens des Busfahrers zur Mutter gebracht worden ist und dort übernachtet hat, soll es sogar zu Geschlechtsverkehr gekommen sein, er sei dabei gefesselt gewesen.
Als die Mutter am Donnerstag wieder zu Kräften kommt, wiederholt der Vorsitzende Richter Martin Reuff sein Urteil: „Ich habe sie freigesprochen.“Es gebe eine besondere Liste von Schwierigkeiten, die nicht in jedem Prozess auftauchen. Der erste Anklagepunkt, dass der Bub im Alter von etwa drei Jahren missbraucht worden sein soll, könne nicht bewiesen werden. Die Gutachter seien sich einig, dass es nicht möglich sei, sich an Erlebnisse als Dreijähriger zu erinnern. „Wenn es keine sichere, verlässliche Erinnerung des einzigen Zeugen und auch keine sonstigen Beweismittel gibt, kann man hier keine Verurteilung aussprechen.“
Was den Fall des schweren sexuellen Missbrauchs 2011 angeht, so glaubt das Gericht, dass es sich um eine falsche Erinnerung handelt. Konkret spricht Reuff von einem „Erinnerungsmissverständnis“. Er stützt sich also auf die sogenannte Pseudoerinnerung, in der Personen Tatsachen als wahr empfinden, die es in der Realität nicht gegeben hat. Reuff ist der Ansicht, dass der Bub seine neue Bezugsperson, den früheren Pflegevater und jetzigen Betreuer, nicht verlieren wollte, während die Mutter wiederholt verlangte, das Sorgerecht zurückzubekommen. Außerdem habe der Junge – was durch diverse Zeugen belegt wurde – nach Erklärungen gesucht, warum er so ist wie er ist, warum er wenig Freunde hat, kein Abitur. Reuff zufolge kann das Gericht nicht ausschließen, dass der Bub auf der Suche nach Antworten und sich selbst diese Erinnerung konstruiert habe, um eine Entlastung herbeizuführen. „Es gibt so viele Zweifel, dass wir nicht sicher sagen können, was eigentlich passiert ist“, sagt der Vorsitzende. Und wenn ein Gericht nicht wisse, was passiert ist, sei die Angeklagte freizusprechen, auch wenn das Ergebnis „nicht vollständig zufriedenstellend“sei.
Staatsanwalt Ulrich Karst spricht in seinem Plädoyer von einem ungewöhnlichen Fall. Er fordert aber wie der Verteidiger, der dem Sohn vorwarf, seine Mutter mit einer Lüge „abzuschießen“, einen Freispruch. „Egal was war, wir können das nicht aufklären, durch die Aussageverweigerung können wir nicht eruieren, was passiert ist.“Er lässt aber auch die vielen Hinweise auf einen möglichen Missbrauch nicht unerwähnt. Er richtet seine Gedanken auf den fünfjährigen Sohn, der noch bei der Mutter lebt und stellt die Frage: „Was passiert, wenn dieses Kind in einigen Jahren kommt und sagt, meine Mama hat mich sexuell missbraucht?“Karst zweifelt daran, ob ein alleinerziehender Vater mit seiner Tochter leben dürfe, wenn eine andere Tochter bereits vom Jugendamt herausgenommen wurde und dann Missbrauchsvorwürfe wie in diesem Fall erheben würde.
Die Nebenklägervertreterin sah die Vorwürfe als bestätigt an, weil Lehrer, Pflegevater, Psychologe und Gutachterin davon ausgehen, dass der junge Mann die Wahrheit sagt. Ob sie Rechtsmittel einlegt, steht noch nicht fest. Im Gespräch mit unserer Zeitung sagt der Betreuer des jungen Mannes, dass er gewisse Punkte des Urteils nachvollziehen könne, richtet seinen Blick aber nach vorn. „Für uns geht das Leben ab morgen weiter.“Zunächst müsse er dem 19-Jährigen das Urteil erklären.
Auslöser für die Ermittlungen war eine Panikattacke