Aichacher Nachrichten

Das Siegen verlernt

Analyse Deutsche Mannschaft­en können nicht mehr gewinnen. Es fehlt ihnen an individuel­ler Klasse. Entscheide­nder sind aber fehlende Willenssch­ulung und gesellscha­ftliche Entwicklun­gen

- VON TILMANN MEHL

Augsburg Thomas Hitzlsperg­er sah keine Schuld bei Toni Kroos. Auch Thilo Kehrer sprach er frei davon. Der französisc­he Ausgleich zum 1:1 sei aus deutscher Sicht eine „Verkettung unglücklic­her Umstände gewesen“, sagte der ehemalige Nationalsp­ieler. In der Tat war es schwer für Kehrer, Flankengeb­er Lucas Hernández zu stören, und so kunstvoll Antoine Griezmann den Ball mit dem Kopf ins Netz lenkte, hätten die Fußball-Ästheten aufgeheult, falls Kroos hindernd eingeschri­tten wäre. Niemand macht den beiden Vorwürfe. Auch das ist ein Problem des deutschen Fußballs. Möglicherw­eise sogar des deutschen Sports.

Es fehlt an rigorosem Verhalten sich selbst gegenüber. Es fehlt an klaren Ansagen und Konsequenz­en. So verlernten Deutschlan­ds beste Kicker das Gewinnen. Die Nationalma­nnschaft hat die WM in Russland ja nicht vorzeitig verlassen, weil ihre Spieler schlechter als Mexikaner, Schweden oder Südkoreane­r gewesen wären. Sie schied auch nicht wegen taktischer Schwächen aus. Das DFB-Team fuhr nach Hause, weil es nicht fähig war, dem absoluten Siegeswill­en alles unterzuord­nen. So wie nun gegen Frankreich. Natürlich haben die Deutschen ein gutes Spiel abgeliefer­t. Wenn aber Kroos die Brutalität sich selbst gegenüber abgeht, Griezmann in den eigenen Strafraum zu folgen, werden Siege gegen Spitzenman­nschaften auch weiterhin ausbleiben. Der Franzose trifft diesen Kopfball wahrschein­lich in einem von hundert Fällen derart formvollen­det. Aber er sucht 100 Mal den Weg in den Strafraum. Kroos nicht.

Er ist kein Einzelfall. Jonas Hector bleibt beim 1. FC Köln, obwohl der Verein aus der ersten Liga abgestiege­n ist. Es ist verdienstv­oll, Fehler auszubügel­n, die man selbst gemacht hat. Ein zutiefst sympathisc­her Wesenszug. Der Mann ist Profifußba­ller. Er ist Nationalsp­ieler. Ist es als solcher nicht ureigenste Motivation, weiter im Kreise der Besten zu spielen? Sich zu verbessern? So viele Spiele wie möglich auf maximalem Niveau zu gewinnen? Schnöde Siege sind schon seit einiger Zeit nicht mehr in Mode. Es braucht einen philosophi­schen Überbau. Ein Narrativ. Das betrifft nicht nur den Sport.

Die meisten Kennzahlen hinsichtli­ch Einkommen, Wohnraum und Arbeitslos­igkeit sprechen dafür, dass es den Deutschen so gut wie noch nie geht. Das genügt ihnen aber nicht. Sie wenden sich von den Volksparte­ien ab. Bayern floriert, es herrscht Vollbeschä­ftigung. Die CSU rauscht von 47,7 Prozent auf 37,2 Prozent. Als Wahlgewinn­er fühlen sich die Grünen mit 17,5 Prozent. Vier von fünf Wählern haben sich nicht für sie entschiede­n. Aber klar: Sie sind der Sieger.

Angelique Kerber ist eine der erfolgreic­hsten Tennisspie­lerinnen der vergangene­n Jahre weltweit. Sie gewann in ihrer Karriere bislang drei Grand-Slam-Turniere, darunter dieses Jahr mir Wimbledon das prestigetr­ächtigste Championat überhaupt. In Deutschlan­d dürfte sie den wenigsten Menschen bekannt sein. Sie ist nicht glamourös und spielt nicht besonders attraktiv. Ihrem Spiel ist die dahinterst­ehende Arbeit zu jedem Zeitpunkt anzumerken. Viele andere Top-10-Spielerinn­en haben mehr Talent. Kerber aber war die Nummer eins. Was für Leistung! Ihrem Spiel fehlt es aber an Grazie. Reines Gewinnen ist out. Tennis-Deutschlan­d ist eher interessie­rt am janusköpfi­gen Alexander Zverev, einem 21-jährigen Hochtalent­ierten, dem in wichtigen Spielen immer Mut und absoluter Wille verloren gehen.

Der deutsche Fußball war dann am erfolgreic­hsten, wenn er Talent und Wille vereinte. Personifiz­iert von Lothar Matthäus während der WM 1990. Um ihn herum Klaus Augenthale­r, Guido Buchwald und Jürgen Klinsmann. Allesamt von der Muße eher links liegen gelassen. Sie ordneten dem Erfolg alles unter. Klinsmann konnte Matthäus nicht leiden. Buchwald hechelte Maradona überall hinterher – der kam nicht im Strafraum an den Ball. Augenthale­r putzte aus.

Der Titel 2014 fußte nicht auf Spielern, die den anderen hinsichtli­ch ihres Könnens am Ball überlegen waren. Mario Götze erzielte dieeine ses wundervoll­e Siegtor ja auch nur, weil der Rest des Teams Lionel Messi weg vom eigenen Tor hielt. Sinnbildli­ch dargestell­t vom blutenden Bastian Schweinste­iger.

Seitdem hat keine deutsche Mannschaft einen wichtigen Titel gewonnen. Nah dran war häufig der FC Bayern. Unter Pep Guardiola spielten die Münchner den ansehnlich­sten Fußball ihrer Geschichte. Die erfolgreic­hste Saison aber hatten sie unter Jupp Heynckes. Mit einem Mario Mandzukic im Sturm, der nicht immer traf – aber immer aufgeriebe­ne Gegenspiel­er hinterließ. Einem Arjen Robben, der sich nicht sonderlich daran rieb, „Alleinikov“genannt zu werden.

Unter Guardiola scheiterte­n sie in der Champions League an Barcelona, Real und Atlético Madrid. Atlético? Eine Mannschaft, die sich nichts anderes als dem Siegen verschrieb­en hat. Mit dem Trainer Diego Simeone, der sich mit José Mourinho einen Wettkampf liefert, wessen Spielweise häufiger als zynisch bezeichnet wird. Die beiden wollen ausschließ­lich ihre Spiele gewinnen. Nichts anderes. Dafür reizen sie sämtliche Möglichkei­ten aus. Der unbedingte Erfolgswil­le ist also zynisch.

Simeone befehligt ein Team, das Spaß am Leiden hat. Das Fußball nicht darüber definiert, ob Spielzüge einem Gemälde gleichen. Die Partie gilt dann als gelungen, wenn sie gewonnen wurde. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die französisc­he Nationalma­nnschaft. Auch sie wird misstrauis­ch beäugt. So viel Hochbegabt­e und dann spielen sie

Was Griezmann macht und Kroos eben nicht

Wille und Talent: Personifiz­iert von Lothar Matthäus

Sicherheit­sfußball. Ein Weltmeiste­r, der sich für seine Spielweise rechtferti­gen soll.

Fußballspi­elen ist nicht nur Kombiniere­n, Laufwege, Pressing. Fußball bleibt am Ende das Duell eins gegen eins. Mann gegen Mann. Oder auch Frau gegen Frau. Kampf um den Ball. Mit der richtigen Taktik wird es leichter. Natürlich. Wenn aber alle Spieler taktisch gut ausgebilde­t sind, wenn sie alle auf technisch hohem Niveau agieren: Was entscheide­t dann?

Die Chefausbil­der des DFB haben mittlerwei­le erkannt, dass in den vergangene­n Jahren zu viele baugleiche Spieler aus den Nachwuchsl­eistungsze­ntren hervorging­en. Feinfüßige Mittelfeld­spieler, technisch beschlagen­e Außenbahns­printer. Keine Mittelstür­mer, kaum Außenverte­idiger. Aber ist nicht das eigentlich­e Problem, dass die Spieler auf dem Platz ausschließ­lich zum Fußballspi­elen erzogen werden? Fehlt nicht auch die Erziehung hin zum absoluten Siegeswill­en? Dazu, jeden verlorenen Zweikampf als persönlich­e Niederlage zu empfinden. Dazu, Pleiten im Trainingss­piel als Beleidigun­g zu sehen.

Die Götzes, Draxlers und Sanés sind fantastisc­he Fußballer. Sie hielten in ihrer Jugend viel Druck aus. So groß das Talent auch sein mag, in den Profiberei­ch schaffen es nur die wenigsten. Sie wurden aber nicht dazu ausgebilde­t, alles für den Erfolg zu tun. Dem Ball auch dann nachzusetz­en, wenn ihn der nichtsnutz­ige Mittelfeld­abräumer verloren hat. Den Gegenspiel­er mit Körperspra­che und Selbstbewu­sstsein einschücht­ern. Ihm zeigen, dass der Weg zum Erfolg nur über Schmerzen führt.

Die deutschen Fußballer haben das Siegen verlernt. Diese verschütte­te Fähigkeit wieder freizulege­n, ist die schwierigs­te Aufgabe von Löw, Kovac und Co.

 ?? Foto: Witters ?? Toni Kroos weiß aus Madrid sehr gut, wie sich Gewinnen anfühlt. Doch Cristiano Ronaldo spielt mittlerwei­le in Turin und so werden die Erfolgserl­ebnisse für Kroos seltener. Der Mittelfeld­spieler ist immer noch eine Stütze im deutschen Spiel. Seine Defensivau­fgaben aber geht er mitunter sehr lax an.
Foto: Witters Toni Kroos weiß aus Madrid sehr gut, wie sich Gewinnen anfühlt. Doch Cristiano Ronaldo spielt mittlerwei­le in Turin und so werden die Erfolgserl­ebnisse für Kroos seltener. Der Mittelfeld­spieler ist immer noch eine Stütze im deutschen Spiel. Seine Defensivau­fgaben aber geht er mitunter sehr lax an.
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Foto: Wagner Jupp Heynckes bescherte dem FC Bayern seine erfolgreic­hste Saison.
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Foto: Witters Lothar Matthäus führte die DFB-Elf 1990 zum dritten WM-Titel.

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