Der größte Steuerraub in der Geschichte Europas
Kriminalität Durch ein raffiniertes und schwer durchschaubares System ist es Betrügern gelungen, die europäischen Steuerzahler um 55 Milliarden Euro zu prellen. Doch kaum jemand spricht darüber. Wie kann das sein?
Augsburg Es ist wie in einem MafiaFilm: Sobald die Polizei den Verbrecherbanden auf die Spur kommt, ihre Geldquellen versiegen lässt, die Wege für Frauenhandel und Drogendeals verschließt, finden die Gangster neue Pfade. Nur dieser Fall ist echt. Und es geht nicht um Menschenhändler, Drogendealer und Gangsterbosse. Es geht um Männern in Maßanzügen und Frauen in Kostümen. Um die reichsten Menschen der Welt, um Investmentbanker, Steuerberater, Anwälte und Wirtschaftsprüfer. Menschen, die viel Geld haben und noch mehr haben wollen. Die dabei jedes Fehlerbewusstsein vergessen.
Wie Recherchen des ARD-Magazins Panorama, der Wochenzeitschrift Zeit und Zeit Online und dem Recherchenetzwerk Correctiv enthüllt haben, haben die Steuerbetrüger jahrelang über ein raffiniertes und schwer durchschaubares System jeden deutschen und viele europäische Steuerzahler betrogen. Die Recherchen zeigen, dass den europäischen Staaten durch die Masche mindestens 55,2 Milliarden Euro geklaut worden sind. In Deutschland waren es 31,8 Milliarden Euro, in Frankreich mindestens 17 Milliarden, in Italien 4,5 Milliarden, in Dänemark 1,7 Milliarden und in Belgien 201 Millionen. Davon hätten Kindergärten und Schulen gebaut oder Stellen für Alten- und Krankenpfleger geschaffen werden können. Kurz: das Gemeinwohl gestärkt werden können. Stattdessen haben die Steuermilliarden Reiche noch reicher gemacht.
Stellt sich die Frage: Wie haben die Betrüger das gemacht? Einfach ist ihr System nicht. Die Recherchen zeigen, dass sie eine Industrie erschaffen und sich Schlupflöcher im Steuerrecht gesucht haben. In dieser Industrie schoben Banken und Investoren Aktien mit (cum) und ohne (ex) Anspruch auf eine Dividende um den Tag der Auszahlung so lange untereinander hin und her, bis das Finanzamt den Überblick verlor. Die Behörde wusste nicht mehr, wer schon Steuer gezahlt hatte und wer nicht. Also forderten einfach alle die Steuer wieder zurück – das geht – und bekamen sie auch, obwohl sie nur einmal bezahlt worden war. Das Steuergeld war ihre Rendite. Anders als bei Menschen, die ihr Geld legal in Aktien investieren. Sie vermehren ihr Geld durch steigende Kurse oder durch Gewinnbeteiligung in Form der Dividende.
Das Risiko bei solchen Cum-ExGeschäften, wie die Betrügerei genannt wird, Geld zu verlieren, geht gegen null. Denn es gibt keine Kursschwankungen und wie die Correctiv-Journalisten es schreiben: Der Staat ist eine Geldquelle, die niemals versiegt. Die einzige Gefahr war die, entdeckt zu werden.
Das passierte auch. In Deutschland schloss der Gesetzgeber die Lücke für Cum-Ex-Geschäfte 2012. Die Deutschen warnten aber offensichtlich ihre europäischen Nachbarn nicht vor den Betrügereien. Die Folge: Die Finanzgauner zogen die gleiche Masche in Frankreich, Italien, Dänemark, Spanien, Belgien und vielleicht noch anderen Ländern ab. Und selbst in Deutschland laufen die Geschäfte weiter, wie die Recherchen ergaben.
Spielte die Geschichte in der Verbrecherstatt in der Finanzwelt und Hollywood würde sie verfilmen, sie würde Kinosäle füllen. Und so? Spricht fast niemand außerhalb der Medien über den Milliardenraub. Obwohl er vermutlich der größte Steuerbetrug in der Geschichte Europas ist. Obwohl bekannte Persönlichkeiten darin verwickelt sind. Der Unternehmer Carsten Maschmeyer soll etwa sein Geld in CumEx-Geschäfte investiert haben. Und man muss gar nicht bis nach Hannover blicken, auch in der Region haben Unternehmer sich beteiligt: der Outdoor-Jackenmacher Peter Schöffel zum Beispiel. Oder der Drogeriekönig Erwin Müller. Beide argumentieren aber, sie seien Opfer. Hätten nichts davon gewusst, dass die Rendite ihrer Fonds vom Staat bezahlt worden ist. Müller hat deshalb sogar die Sarasin-Bank, die ihm den Fonds verkauft hatte, verklagt und recht bekommen. Sie muss ihm 45 Millionen Euro zahlen, weil sie ihn nach Ansicht der Richter nicht ausreichend beraten hat.
Warum interessiert sich niemand für diesen Betrug? Wo bleibt der Aufschrei? Wo bleibt der Skandal?
Genau die richtigen Fragen für Hendrik Michael. Der Bamberger Kommunikationswissenschaftler hat sich ausführlich damit beschäftigt, wie ein Skandal entsteht und warum aus den Panama Papers, in denen es auch um Steuerhinterziehung ging, keiner wurde – zumindest nicht in Deutschland. Seine erste Antwort: „Steuerhinterziehung wird in der Gesellschaft oft noch als Kavaliersdelikt betrachtet.“Steuersünder werden meist nicht geächtet, die Tragweite ihrer Taten – nämlich die Milliardensummen, die dem deutschen Staat fehlen – sei vielen nicht bewusst. Der zweite Punkt: Finanz- und Börsenthemen gelten als sperrig, kompliziert, nüchtern. Sie bewegen die Menschen nicht, weil sie sich mit Zahlen befassen, nicht mit Emotionen, die im Gedächtnis bleiben und deshalb Gesprächsthema sind, erklärt Michael.
Dass sich nichts bewegt, sieht Michael anders. Die Politik hat durchaus auf die neuen Enthüllungen zum Cum-Ex-Betrug reagiert. Am Dienstag hat das EU-Parlament darüber gesprochen, wie sich Steuerräuber in Zukunft europaweit stoppen lassen. „Und die Vermittlung in die Politik ist auch eine Aufgabe von Journalismus“, sagt Michael. Aber eine Frage bleibt: Wird es diesmal gelingen, den Ganoven einen Schritt voraus zu sein?