Aichacher Nachrichten

Entfernt Siemens sich von Deutschlan­d?

Bilanz Joe Kaeser wollte eigentlich mal keine Schlagzeil­en provoziere­n. Dann wurde der Spitzenman­ager bei einer Pressekonf­erenz doch deutlich und spricht über die AfD, Geschäfte mit Saudi-Arabien und Stellen in Deutschlan­d

- VON STEFAN STAHL

München Über mangelnde Aufmerksam­keit kann sich Joe Kaeser nicht beklagen. Er liebt die Medien und sie mögen ihn. Nach Pressekonf­erenzen beginnt die wahre Pressekonf­erenz, wenn der Siemens-Chef das Podium verlässt und die Nähe der Reporter sucht, um mit leiser Stimme das Neueste aus Kaesers Welt kund zu tun. So geschieht es auch am Donnerstag in München, nachdem der 61-Jährige zuvor eine bis auf die zuletzt in die roten Zahlen gerutschte Kraftwerks­sparte tadellose Bilanz vorgelegt hat.

Als ihn ein Journalist nun fragt, wie er den Absturz des einst Siemens überlegene­n US-Konkurrent­en General Electric einschätzt, verschwind­et das Lächeln aus dem Gesicht des Managers. Er senkt den Kopf etwas und sagt wie ein Vater zu seinen Kindern: Man dürfe nicht arrogant werden. Und dann fügt Kaeser, wohl auch als Ermahnung an sich selbst, hinzu: „Pass bloß auf!“

Der Weckruf verwundert nicht, ist die Industrie-Ikone General Electric doch zu einem Sanierungs­fall geworden. Vorbei sind die Zeiten, als sich Siemens-Chefs vorhalten lassen mussten, warum sie nicht so tolle Renditen wie General Electric abliefern. Es gäbe also reichlich Gründe für Kaeser, sich stolz auf die Brust zu klopfen und abfällig über die Amerikaner zu reden. Dazu lässt er sich nicht provoziere­n, auch wenn der Siemens-Umsatz im abgelaufen­en Geschäftsj­ahr gegenüber 2017 um zwei Prozent auf 83 Milliarden Euro anschwoll und der Gewinn nach Steuern auf hohem Niveau leicht auf etwa 6,12 Milliarden Euro zulegte, ja, die Aktionäre gar eine um 0,10 auf 3,80 Euro je Aktie erhöhte Dividende erhalten sollen.

Kaeser streicht natürlich seine Leistungen als Konzernlen­ker heraus, wenn er sagt: „Es ist nun schon das fünfte Jahr in Folge, dass wir die Prognose erreichen oder übertreffe­n.“Doch gegenüber den tief gefallenen Kollegen von General Electric lässt er Mitgefühl erkennen.

Überhaupt fällt an dem Tag auf, wie sorgsam Kaeser seine Worte wägt, als habe er sich vorgenomme­n: Heute bloß keine neuen Schlagzeil­en provoziere­n. Ja, partout nicht irgendwelc­he Zahlen nennen, welche personelle­n Einsparpot­enziale das neue Siemens-Veränderun­gsprogramm haben könnte.

Als dann ein Reporter spitz an- merkt, das sei ja heute eine eher unspektaku­läre Siemens-Pressekonf­erenz, lässt Kaeser dann doch keinen Zweifel aufkommen, dass er dem Verein für deutliche Aussprache angehört, zu dem sich bekanntlic­h CSU-Legende Franz Josef Strauß gezählt hatte. Als der Siemens-Boss nämlich gefragt wird, ob er wieder gegen die AfD twitternd sticheln werde, sagt er: „Ich habe mich nie gegen die AfD ausgesproc­hen.“Das sei schließlic­h eine zugelassen­e Partei. Wer sie wählen wolle, solle das tun. Dann macht Kaeser deutlich: „Ich habe mich gegen Rassenhass und Ausgrenzun­g ausgesproc­hen. Das werde ich wieder tun.“Er sei dies den Menschen schuldig, die zu ihm aufschauen. Der Manager betont hier seine gesellscha­ftliche Verantwort­ung. Bekanntlic­h hatte Kaeser Alice Weidel, AfD-Fraktionsv­orsitzende im Bundestag, via Twitter massiv attackiert: „Lieber Kopftuch-Mädel als Bund Deutscher Mädel. Frau Weidel schadet mit ihrem Nationalis­mus dem Ansehen unseres Landes in der Welt. Da, wo die Haupt-Quelle des deutschen Wohlstands liegt.“Und der Siemens-Chef lässt auch erahnen, wie sehr er mit sich gerungen haben muss, die Reise nach Saudi-Arabien zu dem dort stattfinde­nden Investoren-Forum abzusagen. Schließlic­h lockten hier Großaufträ­ge. Der Fall des ermordeten saudischen Regimekrit­ikers Dschamal Kaschoggi habe ihn aber zum Hierbleibe­n animiert.

Dennoch wirkt Kaeser nach wie vor zerrissen, was das Geschäftem­achen mit einem Land wie SaudiArabi­en betrifft: Denn dort erzielte Großaufträ­ge sicherten auch Arbeitsplä­tze in Deutschlan­d, gibt er zu bedenken. Zuletzt war im Siemens-Heimatland verstärkt der Vorwurf aufgekomme­n, der Konzern entfremde sich von Deutschlan­d. Darauf von unserer Zeitung angesproch­en, stellt Kaeser klar: „Wir wollen uns nicht von Deutschlan­d entfremden.“Als Beleg verweist er darauf, dass von den 2017 weltweit fast 41000 neu entstanden­en Arbeitsplä­tzen 4700 in Deutschlan­d geschaffen wurden. Ein Blick in die Siemens-Bilanz offenbart allerdings, dass die Zahl der Beschäftig­ten in Deutschlan­d von 2017 auf 2018 um rund 1000 auf etwa 117 000 zurückgega­ngen ist.

Damit arbeitet nicht mal mehr ein Drittel aller 379 000 Siemensian­er im Ursprungsl­and des Konzerns. Auf die Fakten antwortet Kaeser mit einer anderen Zahl: So seien zwei Drittel der Aufwendung­en für die Forschung von rund 5,6 Milliarden Euro im vergangene­n Jahr nach Deutschlan­d geflossen. Und ob China oder Indien: Die Regierunge­n solcher wichtigen Länder, argumentie­rt der Siemens-Chef, forderten bei Auftragsve­rgaben als Gegengesch­äft die Schaffung von Arbeitsplä­tzen vor Ort. Dennoch sagt IGMetall-Vorstand und Siemens-Aufsichtsr­at Jürgen Kerner unserer Zeitung: „Siemens muss mal wieder die Fertigung für eine ganz neue Technologi­e oder ein neues Produkt in Deutschlan­d ansiedeln.“

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Foto: Christof Stache, afp Siemens-Chef Joe Kaeser äußert sich nicht nur zum Geschäft, er spricht auch über Politik.

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