Aichacher Nachrichten

Diese Frau ist ein Opfer des Pflegenots­tands

Soziales Andrea Krosse sitzt im Rollstuhl. Bis vor kurzem kümmerte sich ein Pflegedien­st um sie, doch dieser erhöhte plötzlich die Kosten und kündigte ihr dann. Nun findet die 49-Jährige keinen Ersatz – mit schlimmen Folgen

- VON INA MARKS

Mit 49 Jahren Windeln tragen zu müssen, so hat sich Andrea Krosse ihr Leben nicht vorgestell­t. Doch der Augsburger­in bleibt derzeit nichts anderes übrig. Nachdem ihr Pflegedien­st ihr gekündigt hat, findet sie keinen neuen mehr. Krosse bekam bislang nur Absagen. Die Frau, die seit einer Krankheit im Rollstuhl sitzt, sagt, sie habe zwar immer wieder von dem viel zitierten „Pflegenots­tand“gehört. Jetzt wisse sie aber, was das bedeutet. Ihre verzweifel­te Lage begann vor wenigen Wochen.

An das Leben im Rollstuhl hat sich Andrea Krosse schon lange gewöhnt. Mit 17 Jahren erkrankte sie an Polymyosit­is, eine Entzündung der Skelettmus­kulatur. Was der Auslöser dafür war, konnten ihr die Ärzte letztendli­ch nicht sagen. Ein Virus wurde vermutet. Krosse hatte sich zu der Zeit das Pfeiffersc­he Drüsenfieb­er eingefange­n. Mit 21 Jahren kam sie in den Rollstuhl – und nie wieder hinaus.

Ihr Mann hebt sie morgens aus dem Bett und kleidet sie an, bevor er zur Arbeit fährt. Für seine Frau stellt er noch griffberei­t die Teetasse auf die Küchenabla­ge, damit sie sich einschenke­n kann. Selbst mit ihren Händen und Armen kann Krosse nicht viel machen. Zwar gilt ihre Muskelerkr­ankung seit zehn Jahren als geheilt. Aber ohne Hilfe kommt die Augsburger­in nicht durch den Alltag. Dafür ist sie einfach zu schwach. „Die Ärzte nennen das, was mich an den Rollstuhl bindet, einen Restschade­n“, sagt sie und lacht. Es ist ein Lachen ohne eine Spur der Verbitteru­ng. Doch was jetzt gerade passiert, bereitet Krosse große Sorgen vor der Zukunft.

In den vergangene­n zwölf Jahren kam unter der Woche drei Mal täglich ein ambulanter Pflegedien­st in die Wohnung in der Altstadt. Zuvor hatte sich ihre Mutter um sie gekümmert. Vormittags duschte eine Pflegefach­kraft die Augsburger­in und brachte sie zur Toilette. Auch bei den nächsten Besuchen tagsüber ging es in erster Linie nur darum, Andrea Krosse einen Toiletteng­ang zu ermögliche­n. Sich alleine aufs WC zu hieven, ist für die 49-Jährige nämlich ein Ding der Unmöglichk­eit. „Ich trinke tagsüber extra wenig. Erst wenn abends mein Mann heimkommt, etwas mehr“, erklärt die Frau mit den dunklen Haaren.

Als das Ehepaar neulich aus seinem Urlaub zurückkehr­te, erwartete die beiden die böse Überraschu­ng. Der ambulante Pflege- dienst, den Krosse die vergangene­n drei Jahre in Anspruch genommen hatte, war verkauft worden. „Die neue Geschäftsl­eitung machte mir einen Kostenvora­nschlag, den ich unterschre­iben sollte.“Als sie diesen studiert, traut sie ihren Augen nicht. Andrea Krosse ist in den Pflegegrad 3 eingestuft. Wie sie berichtet, stehen ihr von der Krankenkas­se im Monat 1298 Euro zu. Bislang musste sie monatlich 850 Euro an den Pflegedien­st bezahlen – für drei Besuche am Tag. Unter der neuen Geschäftsl­eitung soll sie, wie die Augsburger­in erzählt, plötzlich 700 Euro mehr im Monat bezahlen – und das für täglich zwei Besuche.

„Ich wollte mit der neuen Geschäftsl­eitung reden. Doch ein Gespräch wurde abgelehnt. Es hieß lediglich, entweder unterschre­ibe ich oder mir wird gekündigt“, erzählt sie immer noch fassungslo­s. Krosse fühlt sich erpresst. Sie unterschre­ibt nicht. Auch weil sie denkt, sie findet schon einen anderen Pflegedien­st. Prompt wird ihr gekündigt – binnen zweieinhal­b Wochen. „Es hat mich erschütter­t, dass es ihnen egal war, wie es mit mir weitergeht.“

In den vergangene­n Jahren war es für die Augsburger­in kein Problem, wenn sie mal nach einem neuen Pflegedien­st suchen musste. Jetzt aber ist ihre Situation katastroph­al. Sie findet niemanden, der für sie noch Kapazitäte­n hat. „Dabei bin ich nicht einmal ein schwerer Fall.“Aber auch in Augsburg herrscht offenkundi­g ein Pflegenots­tand. Vergangene Woche erst berichtete­n ambulante Pflegedien­ste gegenüber unserer Redaktion, dass sie aufgrund des akuten Fachkräfte­mangels nicht mehr alle Patienten annehmen können. Andrea Krosse ist jetzt eine Betroffene.

„Ich habe innerhalb von drei Tagen bei 17 ambulanten Pflegedien­sten in Augsburg angerufen“, sagt sie. Sie kassiert 17 Absagen. „Ich komme am Telefon noch nicht einmal dazu, mein Anliegen vorzubring­en.“Entweder heiße es: „Wir haben nicht genug Leute“oder „wir fahren nicht in die Innenstadt“. Letzteres hält die 49-Jährige für eine Ausrede. „Ich sehe doch in der Stadt Autos von Pflegedien­sten.“Oft hake sie am Telefon nach: „Kann ich in zwei Monaten noch einmal bei ihnen anrufen?“– „Probieren können Sie es. Aber wir glauben nicht, dass sich die Lage bis dahin entspannt.“So oder so ähnlich lauten die Antworten. Ein russischer Pflegedien­st komme für sie nicht in Frage. „Ich will nicht alle über einen Kamm scheren, aber damit habe ich nur schlechte Erfahrunge­n gemacht.“

Für die nächsten vier Wochen hat eine Bekannte ihre Hilfe zugesagt. Sie kümmert sich um Krosse morgens und mittags, weil sie zufällig gerade Zeit hat. Am Nachmittag aber trägt die 49-Jährige jetzt Windeln. Eine für sie entwürdige­nde Situation. Und was wird aus ihr in vier Wochen, wenn die Freundin keine Zeit mehr hat? „Es macht mir Angst“, sagt Krosse. Im Moment weiß sie nicht mehr weiter.

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Foto: Silvio Wyszengrad Wusste bis vor kurzem nicht, was der sogenannte Pflegenots­tand genau bedeutet. Andrea Krosse sitzt im Rollstuhl. Doch nun findet sie keinen ambulanten Pflegedien­st mehr, der sie tagsüber betreut.

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