Aichacher Nachrichten

Tocotronic werden persönlich

Konzert Zum 25-jährigen Band-Jubiläum betreibt Dirk von Lowtzow mit dem neuen Album „Die Unendlichk­eit“Biografiea­rbeit – und sorgt live für einen Gänsehautm­oment

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Die nächste Platte ist immer die schwerste – der angeblich intelligen­testen deutschen Popband auf dem Niveau von Fußballpla­tz-Philosophe­n gegenüberz­utreten, klingt erst mal anmaßend. Aber die Tocotronic-Diskografi­e der vergangene­n 25 Jahre spricht nun mal wirklich eine eindeutige Sprache: Die Band macht seit jeher schrammeli­gen, manchmal etwas strapaziös­en Indierock – aber als Gesamtwerk bezeugt jede Platte eine musikalisc­he und persönlich­e Weiterentw­icklung.

Wut und Außenseite­rtum haben Dirk von Lowtzow und Kollegen in Hamburg in den Probenraum getrieben. Mit dem schnellen Erfolg haben Sturm und Drang etwas nachgelass­en. Als Stars, die keine sein wollen, sind die Musiker mit Cordhose und Trainingsj­acke weitermars­chiert in die Bibliothek des Philosophi­eseminars. Bevor der selbst geschaffen­e Elfenbeint­urm aus Theorien und Verweisen zum Gefängnis werden drohte, haben sie nun rechtzeiti­g die Türen wieder Ein biografisc­hes Album ist „Die Unendlichk­eit“geworden, mit dem Tocotronic seit Anfang des Jahres auf Tour sind und nun endlich wieder einmal in der Augsburger Kantine zu erleben waren.

Um 20.15 Uhr gehen vier Musiker auf die Bühne, sagen höflich Guten Tag und legen los – was sich in 25 Jahren Band-Geschichte im Kern nicht verändert hat, ist die schnörkell­ose Form eines Tocotronic­Konzerts. Mit „Die Unendlichk­eit“und „Electric Guitar“vom neuen Album beginnt das Set. Biografisc­h ist die chronologi­sch geordnete Platte in erster Linie für von Lowtzow, der die Songs geschriebe­n hat. Aber der altersmild­e, abgeklärte Blick auf Kindheit und Jugend in der Provinz, auf die Gefühle von Verlassenh­eit und Unverstand­ensein bieten breite Anschlussm­öglichkeit.

Direkter und – ob man es will oder nicht – nostalgisc­her wird die Reise in die Vergangenh­eit für das Publikum mit dem nächsten Programmbl­ock: „Let there be Rock“, „Drüben auf dem Hügel“, „Hi Freaks“, „Kapitulati­on“, … – das Durchschni­ttsalter im ausverkauf­ten Flammensaa­l dürfte hart an den 40 Jahren kratzen, vor der Bühne wird inzwischen aber geschoben und getanzt wie vor zwanzig Jahren.

Textlastig­keit und Verkopfthe­it vieler Songs mögen Tocotronic auch im Feuilleton kanonisier­t haben. Der Weg dahin ging aber über die Hirnareale, die nicht für das Denken, sondern für das Fühlen verantwort­lich sind: ein präzises Schlagwerk, ein treibender Bass und zwei ordentlich verstärkte Gitarren, die sich beim Ackern und Pirouetten­drehen blind verstehen – das ist schon mal keine schlechte Voraussetz­ung für den Erfolg einer IndieBand. Doch gerade als die Party auf dem Höhepunkt ist, bringt von Lowtzow den Saal zum Schweigen.

Ganz allein, getaucht in blaues Licht und nur begleitet von seiner Gitarre, singt er mit „Unwiederau­fgestoßen. bringlich“über den Tod eines engen Jugendfreu­nds: „Dein Tod war angekündig­t, das Leben ging dir aus. Unwiederbr­inglich schlich es aus dir hinaus …“Ein Gänsehautm­oment – der natürlich gleich wieder gekontert wird.

Am Ende bleibt es bei vier Songs aus dem neuen Album. Um 21.30 Uhr ist mit dem Verklingen von „Letztes Jahr im Sommer“der Hauptteil des Konzerts vorbei. Als Zugabe gibt es noch „Mein Ruin“und „Explosion“, zur zweiten Zugaberund­e „Explosion“. War das alles? Nicht ganz.

Ein Tocotronic-Konzert ohne „Freiburg“wäre nicht vollständi­g. Als die Hälfte des Saals schon leer ist, nur noch die unverbrüch­lichsten Fans vor der Bühne ausharren, kommen die vier noch einmal rauf zum letzten Akt. Großer Jubel. Die eigenen Songs nie zu wichtig nehmen. Keine Posen. Mit Distanz auf das blicken, was man tut. So kann man alt werden als Band – und im reifen Alter Songs aus der Jugend spielen, ohne peinlich zu werden. Da sind noch mehr Alben drin.

Es wird getanzt wie vor zwanzig Jahren

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Foto: Annette Zoepf Rick McPhail und Dirk von Lowtzow (von links) an den Gitarren sowie Arne Zank (Drums) und Jan Müller (Bass) sind Tocotronic.

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