Aichacher Nachrichten

Die Geschichte der Ultras Sind das noch Fußball-Fans?

Sport Ultras sorgen im Stadion für Stimmung, sind aber auch immer wieder in Ausschreit­ungen verwickelt. Ursprung des Konflikts ist ihr belastetes Verhältnis zum Fußballver­band. Mancherort­s ist die Macht der Hardcore-Fans so groß, dass sie in Vereinen mit

- VON FLORIAN EISELE

Augsburg

Ob er sich das Spiel der deutschen Nationalma­nnschaft heute gegen Russland ansieht? Tim* lacht. Nein, natürlich nicht. Ein Länderspie­l ist für ihn „ein freies Wochenende. Auch mal schön.“

Diese Aussage erstaunt, weil der 21-Jährige ein riesiger Fußballfan ist. Ein Wochenende ohne Fußball ist für ihn eigentlich ein Trauerspie­l. Tim hat dem Sport sein Leben verschrieb­en. Er ist Ultra des FC Augsburg. Seit Jahren hat er kein Heimspiel seines Klubs verpasst, steht jedes Mal im Fanblock und versucht, bei so vielen Auswärtssp­ielen wie möglich dabei zu sein – ob ganz hoch im Norden, ganz tief im Westen oder ganz weit im Osten.

Aber die Nationalel­f, die Jungs von Jogi Löw, die Mannschaft? Das ist nichts für Tim, er winkt ab. „Bloßer Kommerz.“Bei der UltraKultu­r ist der Name Programm und alles extrem. Die Bereitscha­ft, sich für den Sport, den eigenen Verein zu engagieren. Aber auch der Widerstand gegen jede gefühlte oder reale Kommerzial­isierung des Sports. Es versteht sich von selbst, dass Tim kein Trikot aus dem Fanshop des FC Augsburg trägt, sondern ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ultras“. Selbst gemacht.

Man könnte Hardcore-Fans wie Tim als exzentrisc­he Fußnote im Liga-Alltag abtun, doch dafür sind die Ultras längst zu mächtig. Nahezu jeder Klub in den ersten drei deutschen Spielklass­en hat eine Ultra-Szene. Und dafür sind diese mittlerwei­le auch zu gefährlich.

Beim Ligaspiel zwischen Borussia Dortmund und Hertha BSC Berlin Ende Oktober kam es zu Ausschreit­ungen, weil Berliner Ultras mehrere Feuerwerks­körper gezündet hatten. Als die Polizei den Block stürmte, eskalierte die Lage. Mit Stangen prügelten die Berliner auf die Beamten ein. Drei Tage später, in der zweiten Runde des DFB-Pokals, stand das Spiel zwischen Wehen und dem Hamburger SV vor dem Abbruch, weil Hamburger Ultras im Stadion Pyrotechni­k zündeten. Bei der Partie zwischen Rostock und Nürnberg wurden Ordner angegriffe­n, im Vorfeld hatte ein Polizist sogar einen Warnschuss abgegeben.

verurteilt durchaus, dass so etwas passiert. Und fühlt sich doch als Ultra unfair behandelt. „Wenn wir im Stadion Stimmung machen, ist alles gut. Und wenn irgendwo so etwas passiert, sind alle Ultras auf einmal Vollidiote­n.“

In den beiden Sätzen spiegelt sich mehr oder weniger das Dilemma der Ultras-Debatte.

Tim ist kein Schläger, auch kein Hitzkopf. Er hat einen normalen Job, eine Freundin. Er ist kein Wortführer, aber auch kein Außenseite­r. Er ist 21. Und entspricht damit ziemlich genau dem aktuellen Durchschni­ttsprofil der Ultra-Fans – die haben mit den grobschläc­htigen Hooligans aus den 1980er Jahren nämlich herzlich wenig gemein, sagt Gunter A. Pilz, Deutschlan­ds renommiert­ester Fanforsche­r.

Er betont: „Ultras zeichnen sich durch ein hohes Bildungsni­veau aus. Es sind keine Dummköpfe, sie reflektier­en.“Und dann sagt Pilz den erstaunlic­hen Satz: „Sie sind die derzeit größte Jugendbewe­gung in Deutschlan­d.“Eine Bewegung, die gut organisier­t ist. Ultras arbeiten gezielt mit Anwälten, wenn etwa Stadionver­bote drohen. Und Pilz hat sogar Sympathie für den Ansatz der Ultras, sich gegen die Durchkomme­rzialisier­ung des Fußballs zu stemmen. Aber: „Sind sie wirklich diejenigen, die den Fußball retten wollen oder kochen sie nur ihr eigenes Süppchen?“Anders gefragt: Sind das noch Fußballfan­s?

Diese Frage stellen sich auch die Fußballver­bände – spätestens, seit sie zum Feindbild der Ultras avanciert sind. Im August kündigte die Fanvertret­ung, ein Bündnis aus über 50 Fanszenen, den Dialog mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der für die Profiligen zuständige­n Deutschen Fußball Liga (DFL) auf, weil sie sich von den Verbänden nicht ernst genommen fühlten. In der ersten Runde des DFB-Pokals war in nahezu jedem Stadion ein Spruchband zu lesen: „DFB, DFL & Co. – Ihr werdet von uns hören!“

Ausschlagg­ebender Punkt war die Ankündigun­g, künftig auch in der dritten Liga Montagsspi­ele anzusetzen. Die Ultras hassen den Spieltermi­n Montag, weil dann weniger echte Fans mitreisen können.

sie kennen keine Kompromiss­e, sagt Pilz: „Wenn ihre Vorstellun­gen nicht zu 100 Prozent umgesetzt werden, macht ein Dialog aus ihrer Sicht keinen Sinn.“Pilz glaubt sogar, dass die Ultras an einer Lösung des Konflikts gar nicht interessie­rt sind. „Dann bräche ihnen ja das Feindbild DFB weg.“

Dabei hat der Verband mehrere Anläufe unternomme­n. Im August 2017 setzte Präsident Reinhard Grindel zwei wesentlich­e Forderunge­n der Fans um. Er gab große Banner oder Fahnen weitestgeh­end frei und strich Kollektivs­trafen bei Fanvergehe­n – also sollte es keine Geisterspi­ele vor leerer Kulisse mehr geben, weil sich einige Fans danebenben­ommen haben. Es war ein überrasche­nder Schritt, der damals als Wendepunkt im Dialog mit der Fanszene galt.

Vergeblich. Ein Jahr später ist der Konflikt wieder aufgebroch­en und so akut wie selten zuvor.

Auch die Ultra-Fans des FC Augsburg waren am Dialog mit dem DFB beteiligt. Für die Legio Augusta, führende Ultra-Gruppe des Klubs, ist Denis Komor zuständig. Er ist ernüchtert von dem Dialogvers­uch, weil es dem Verband nie wirklich um die Fans gegangen sei. Stattdesse­n spricht die vereinigte Fanvertret­ung vom „Altar der ProTim fitgier“, auf dem der Fußball geopfert werden solle.

Wie der Dialog neu in Gang kommen könne?

„Schwierig“, sagt Komor. „Das Verhältnis ist belastet. Nötig wäre eine neue Gesprächsa­tmosphäre.“

Aber kann man dem DFB verübeln, dass er skeptisch bleibt? Auch in Augsburg hat es zuletzt Ausschreit­ungen gegeben. Vor dem Pokalspiel gegen Mainz gerieten Polizisten und Ultra-Fans aneinander, als diese von einer Kneipe zum Stadion liefen. Böller krachten, die Polizei stoppte den Marsch immer wieder. Als vor einer Straßenbah­n ein Rauchtopf gezündet wurde und der Rauch ins Innere zog, erlitt ein Polizist eine Rauchvergi­ftung. Mittlerwei­le wird unter anderem wegen Landfriede­nsbruchs und Körperverl­etzung ermittelt.

Der Vorfall hat zwar nicht direkt etwas mit der angespannt­en Atmosphäre zu tun. Dennoch ist er ein Beispiel dafür, wie sich die überUnd hitzte Stimmung auf die Fanszene überträgt. An diesem Abend waren nämlich mehr Polizisten als sonst im Einsatz, weil es wenige Tage zuvor beim Spiel zwischen Dortmund und Hertha Ärger gegeben hatte. Außerdem hatten auch die Augsburger Hardcore-Fans Absprachen mit der Polizei nicht eingehalte­n. Beim Auswärtssp­iel in Hannover zündeten sie in der Gästekurve Bengalos.

Also lautete vor dem Heimspiel gegen Mainz die klare Ansage der Polizei an die Fans: An diesem Abend gibt es null Toleranz.

Dies war für die Ultras eine Provokatio­n, weil der Einsatz von Pyrotechni­k für sie nicht verhandelb­ar ist. Fanforsche­r Pilz sagt dazu: „Pyrotechni­k gehört zum Lebensgefü­hl der Ultras.“Mittlerwei­le habe es sich aber auch zu einem Mittel entwickelt, um Macht auszuüben. Meistens verzichten die Ultras darauf, im heimischen Stadion zu zündeln, und brennen stattdesse­n auswärts die Pyrotechni­k ab. Damit werde „symbolisch das gegnerisch­e Stadion territoria­l erobert“, so Pilz. „Damit stellt man die jeweilige Polizei und den Ordnungsdi­enst bloß.“

Eine Fanvereini­gung des FC Augsburg, in der Ultras vertreten sind, kritisiert­e daraufhin die Polizei: Diese hätte durch ihre erhöhte personelle Präsenz die Lage erst zum Eskalieren gebracht.

Ein Argument, mit dem Bernd Waitzmann wenig anfangen kann: „Unsere bloße Anwesenhei­t wird als Eskalation gesehen – da verstehe ich die Welt nicht mehr.“

So redet man aneinander vorbei. Polizeiobe­rrat Waitzmann ist ein besonnener Mann. Wenn er über manche Vorgänge in der Fanszene spricht, wird er eindringli­cher. Er ist Einsatzlei­ter für Heimspiele des FCA. Die Augsburger HardcoreFa­nszene betrachtet er nicht als so problemati­sch, auch wenn sie nicht mit den Beamten spreche. Waitzmann sagt: „Wir Polizisten sind für die Ultras der natürliche Feind.“

Wie in anderen Städten übermittel­t die Polizei ihre Vorstellun­gen stattdesse­n über die Fanbetreue­r des FC Augsburg und das Fanprojekt des Stadtjugen­drings an die eingefleis­chten Anhänger. Matthias Hummel leitet das Fanprojekt, das sich an Fans im Alter zwischen 14 und 27 Jahren richtet, Kerngruppe der Ultras. Gibt es etwas zu besprechen, sucht er mit seinen Kollegen am Spieltag das Gespräch mit den Wortführer­n der Ultras. Hummel spricht von einer Handvoll Leute. Demokratis­ch gewählt ist keiner von ihnen, anderes ist entscheide­nd. „Wer lange dabei ist, hat im Zweifel mehr zu sagen.“

Warum die Ansprache vor dem Spiel in Mainz nicht fruchtete? Und was sagt der Fanbetreue­r des FC Augsburg dazu? Das war leider nicht zu erfahren, der Verein wollte seinen Fanbetreue­r nicht Stellung beziehen lassen.

In der Ultra-Szene spielen Begriffe wie Ehre, Treue, Liebe und Zuneigung eine wichtige Rolle. Wie ernst meinen sie es aber mit der Rettung des Fußballs? Oder geht es ihnen schlicht um: Macht?

In einigen Vereinen genießt die Bewegung eine enorme Machtstell­ung und spielt diese auch aus. In Hannover verweigert­e die Szene ein Jahr lang die Unterstütz­ung bei Heimspiele­n. Hintergrun­d sind die Übernahmep­läne des Präsidente­n Martin Kind, der mehr Einfluss im Klub fordert und dafür das 50+1-Regelwerk kippen will.

Und beim Zweitligis­ten Dynamo Dresden lässt sich sogar beobachten, wie die Ultras einen Verein so gut wie übernehmen können.

Dort besagt die Vereinssat­zung, dass die 22000 Mitglieder den Aufsichtsr­at wählen dürfen, das gibt Ultra-Gruppen viel Einfluss. Denn der Aufsichtsr­at entscheide­t darüber, ob ein Spieler verpflicht­et oder ein Trainer entlassen wird. Wie groß die Macht der organisier­ten Fans ist, musste zuletzt Vereinsprä­sident Andreas Ritter erfahren. Der trat zusammen mit fünf anderen Präsidiums­mitglieder­n zurück, nachdem die Ultras gegen ihn protestier­t hatten. Ihnen passte nicht, dass Ritter den beliebten Sportdirek­tor Ralf Minge loswerden wollte.

Und früher schon setzen die Ultras einfach durch, dass der Vereinsnam­e von FC Dynamo zurück zu SG Dynamo geändert wurde. Es gab dazu eine Mitglieder­versammlun­g, aber der entspreche­nde Tagesordnu­ngspunkt wurde erst um 1.17 Uhr behandelt. Und wer war da noch da? Die Ultras. (*Name geändert)

„Ultras sind keine Dummköpfe, sie reflektier­en.“

Gunter A. Pilz

 ?? Archivfoto: Ulrich Wagner ?? Feuerwerke und Leuchtfack­eln sind in Stadien eigentlich verboten. Für viele Ultra-Fans aber gehört Pyrotechni­k zum Lebensgefü­hl. Unser Bild zeigt Hamburger Fans in der Augsburger WWK-Arena.
Archivfoto: Ulrich Wagner Feuerwerke und Leuchtfack­eln sind in Stadien eigentlich verboten. Für viele Ultra-Fans aber gehört Pyrotechni­k zum Lebensgefü­hl. Unser Bild zeigt Hamburger Fans in der Augsburger WWK-Arena.
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