Aichacher Nachrichten

Die Mutter Teresa der Kriegsopfe­r

Vergessene Fronten Eine bulgarisch­e Lehrerin sorgt in den Schluchten des Balkans für deutsche Gräberanla­gen. Und die Jugend engagiert sich an den Lernorten für Frieden. Warum das Erinnern an die sinnlosen Kriege nicht aufhören darf

- VON WERNER REIF

Sofia/Augsburg „Wenn jeder Mensch auf unserem Planeten etwas Kleines für den Frieden tut, können wir die Welt verändern.“Dies ist das poesiealbu­mverdächti­ge Leitmotiv der Lehrerin Ljudmilla („Lussi“) Karaivanov­a, die seit nunmehr 20 Jahren in Bulgarien letzte Ruhestätte­n im Ersten und Zweiten Weltkrieg gefallener deutscher Soldaten in properem Zustand hält. Jetzt ist die 63-Jährige dafür, dass sie selbst in unwegsamen Schluchten des Balkans nach dem Rechten sieht, an einem exemplaris­chen Ort ausgezeich­net worden: an einem einsam gelegenen sogenannte­n „Feldgrab“in steiler Bergeshöhe. Dort fanden 1941 vier deutsche Luftwaffen-Angehörige weitab jeglicher Zivilisati­on den Tod.

In 550 Metern Höhe im Piringebir­ge in Südbulgari­en erhielt die Pädagogin – eine Art „Mutter Teresa“der Kriegsopfe­r – die Silberne Ehrennadel des Volksbunde­s Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge überreicht. Als Dank dafür, dass sie dessen Motto lebt: Versöhnung über den Gräbern. Die Botschaft dieser Szene: Wenn die Toten schon kein Dank des Vaterlande­s (mehr) erreichen kann, sollen Familie und Nachwelt wenigstens einen würdigen Ort der Trauer und des Gedenkens vorfinden.

Die Spur des „Fliegergra­bes von Roshen“– benannt nach der nächs- Ansiedlung im Gebirge – führt zurück in die schwäbisch-oberbayeri­sche Region: nach Landsberg am Lech, Memmingen und Leipheim – zum „Edelweiß-Geschwader“der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Hier war der Heimatstan­dort der vier, die am 16. April 1941 in ihrer „Ju 88“starteten. Vermutlich stürzte sie ab, weil sie über Griechenla­nd getroffen worden war.

Der Vater „Lussis“, der aus der Gegend stammte, war seinerzeit Augenzeuge des Absturzes. Er erlebte auch mit, wie deutsche Soldaten die Toten begruben. Das Grab geriet in Vergessenh­eit, bis sich viele Jahre später Jugendlich­e im Rahmen einer seit 1998 bestehende­n Schulpartn­erschaft der Jörg-ZürnGewerb­eschule in Überlingen am Bodensee der Sache annahmen.

Die damalige Schülerin Anja berichtet: „Das hätte ich mir nicht träumen lassen, als ich mich entschloss, an der Jugendbege­gnung 1998 in Bulgarien teilzunehm­en. Am 2. Tag unseres Aufenthalt­es finden wir mithilfe der Bevölkerun­g in einem einsamen Tal das Grab von vier deutschen Soldaten, die dort beim Absturz ihres Flugzeuges ums Leben kamen.“Die jungen Deutschen kümmerten sich zusammen mit ihrer Mentorin Karaivanov­a um die Grabanlage und schilderte­n den Weg dorthin als „Friedenspf­ad“aus. Heute ist er Teil des Fernwander­weges E4 im Piringebir­ge.

Als „Lussi“dieser Tage mit einer Besuchergr­uppe des Volksbunde­s den etwas mühsamen Weg zur letzten Ruhestätte im dichten Hainbuchen­wald zurückgele­gt hat, geht sie umgehend daran, das Grab der vier von Laub zu säubern, herumliege­nde Plastikfla­schen wegzuräume­n und mit einem mitgebrach­ten Filzstift die leicht verblasste Inschrift auf dem Grabstein nachzuschw­ärzen.

Der Geschäftsf­ührer des Volksbunde­s in Bayern, Jörg Raab, nennt Ljudmilla den „Motor der deutschbul­garischen Jugendbege­gnungen“und dankt ihr für das seit zwei Jahrzehnte­n anhaltende Engagement für den Frieden. Der neue Vorsitzend­e des Volksbunde­s in Bayern, Wilhelm Wenning, überreicht ihr die Ehrennadel seiner Organisati­on. Frau Lehrerin ist sichtlich gerührt.

Die kurze Feier im bulgarisch­en Bergwald hat auch etwas mit dem Jubiläum eines europäisch­en Schicksals­tags zu tun: 100 Jahre nach dem Waffenstil­lstand im Ersten Weltkrieg am 11. November 1918 sollte auch an die „vergessene­n Fronten“dieses großen Völkerschl­achtens erinnert werden. Also an Kriegsscha­uplätze, die nicht so ins öffentlich­e Bewusstsei­n gedrungen sind wie die viel beschriebe­nen Tragödien in Verdun, an der Somme oder auf den Feldern Flanten derns. Auf dem Balkan gibt es keine nach Quadratkil­ometern zählenden Totenäcker, keine Nekropolen. Was aber nicht vergessen werden sollte: Hier, in Südosteuro­pa, nahmen die aneinander­gereihten Verhängnis­se des 20. Jahrhunder­ts ihren Ausgang, zündete am Pulverfass Balkan die Lunte am 28. Juni 1914 zuerst: als Österreich­s Thronfolge­r ermordet wurde.

Im 21. Jahrhunder­t und etliche Generation­en danach steht das kleine „Fliegergra­b von Roshen“symbolhaft nicht zuletzt auch dafür, dass Sorge und Fürsorge um die Kriegsopfe­r nicht länger nur eine Angelegenh­eit alter Männer an Veteranen-Stammtisch­en sind. Es genügt nicht, dort gelegentli­ch das Lied vom guten Kameraden anzustimme­n. Auch die Jugend will für Gedächtnis­räume gewonnen werden. Nur so hat Tradition Zukunft.

Der Volksbund berichtet inzwischen über eine rege Jugend-, Schul- und Bildungsar­beit: 18000 junge Menschen nehmen jährlich an Jugendbege­gnungen und Workcamps im In- und Ausland teil – Soldatenfr­iedhöfe sind regelrecht „Lernorte“für Frieden geworden.

Die Lehrerin „Lussi“mit ihrem Albert-Schweitzer-haften Leitmotiv kann ihre Leidenscha­ft für handfeste Friedensar­beit praktisch vor der eigenen Haustür leben. Ihr „Basislager“ist der Gemeindefr­iedhof der 27000-Einwohner-Stadt Sandanski, ein Kurort nahe der griechisch­en Grenze. Hier wohnt die hauptberuf­liche Direktorin der örtlichen Berufsschu­le. Zum nahen Gemeindefr­iedhof gehören auf einem terrassenf­örmigen Abhang auch die Gräber von 35 Gefallenen beider Weltkriege. Beim Besuch vor Ort baut Ljudmilla Karaivanov­a einen kleinen „Altar“für den anwesenden orthodoxen Popen auf. Weihrauch wabert über dem Hang. Der Priester spricht ein Gebet. „Lussi“hat etwas Wein und Brot mitgebrach­t und zündet auf den Ruhestätte­n der Gefallenen kleine Lichter an. Auch auf Grab Nr. 7. Hier ruht Georg Niederreut­her, Sohn eines königlich-bayerische­n Bezirkstie­rarztes gleichen Namens aus Friedberg (bei Augsburg). Vor seiner Einberufun­g arbeitete er als „praktische­r Ökonom“in Friedberg. Der „Tragtier-Führer“war zuletzt bei einer Gebirgs-MG-Abteilung. Georg Niederreut­her starb kurz vor seinem 20. Geburtstag an Ruhr.

In Grab Nr. 17 liegt der Schütze Josef Almus, geboren am 27. Dezember 1896 in Eppisburg bei Dillingen/Donau. Er lebte als „Dienstknec­ht“in Weisingen (bei Dillingen). Er wurde 1916 nach Kempten einberufen und dann nach Immenstadt versetzt. Almus starb kaum 21-jährig. Die Erinnerung auch an diese jungen Menschen aus dem schwäbisch-oberbayeri­schen Raum hält eine Steinplatt­e aus Basalt wach, die katapultar­tig über die Gräberfeld­er ragt. Mit zeitbeding­tem Pathos ist darauf geschriebe­n: „Dem Gedächtnis seiner gefallenen Söhne/Sie kämpften/Sie starben/Sie leben/Das dankbare deutsche Vaterland“.

Längst sieht der Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge seine Aufgabe nicht mehr darin, dem Sinnlosen von Kriegen posthum einen „Sinn“zu verleihen. Er betrachtet es vielmehr als letzten Dienst, nach dem Abschied von dieser Welt auf Dauer eine würdige letzte Ruhestätte zu ermögliche­n.

Zumal da dieser Abschied häufig jäh ausgefalle­n ist. Der ehemalige Rot-Kreuz-Chef Walter Bargatzky schildert in seinem Buch „Hotel Majestic“eindrucksv­oll einen solchen Fall: 9. Juni 1940, am AisneKanal in Frankreich. Ein Leutnant ist tödlich getroffen. Landsermäß­ig „meldet“er sich gewisserma­ßen für die Ewigkeit bei seinem Nebenmann lakonisch mit den Worten ab: „Ich hau ab, grüß meine Frau.“Der fremde Kamerad fragt nach dem Namen des Sterbenden; die Suche nach seinem Soldbuch wäre bei dem MG-Beschuss viel zu gefährlich. „Auf der Feldflasch­e“, kann der Leutnant noch als Antwort hauchen. Der Kamerad nimmt die Feldflasch­e an sich und robbt weiter.

Der todtraurig­e Rest, eine Ehrenpflic­ht: Kriegsgräb­erfürsorge.

Mit einem Stift zeichnet sie die verblasste Inschrift nach

Der todtraurig­e Rest: Kriegsgräb­erfürsorge

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