Das Tor zum Anfang der Zeit
Mit einem gigantischen Experiment wollen Forscher die Folgen des Urknalls simulieren
Weltmaschine wird der weltgrößte Teilchenbeschleuniger bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) unweit von Genf manchmal genannt. Mit Blick auf die Experimente, die dort laufen, scheint das nicht zu hoch gegriffen. Zum Ursprung des Universums wollen die Forscher dort vordringen. Dazu bringen sie Blei-Ionen in einem 27 Kilometer langen ringförmigen Tunnel unter der Erde mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zur Kollision.
Seit kurzem läuft die Maschine auf Hochtouren. Denn am 3. Dezember muss die gigantische Anlage für eine zweijährige Wartung abgeschaltet werden. Bis dahin kommt das Experiment „Alice“zum Zuge. Und darum geht es dabei: Normale Materie ist aus Atomen zusammengesetzt. Diese bestehen aus einem Atomkern, der von einer Elektronenwolke umgeben ist. Atomkerne wiederum bestehen aus Protonen und Neutronen, die ihrerseits aus Quarks zusammengesetzt sind. Nach heutigem Wissen stellen Quarks die fundamentalen Bausteine der Materie dar. Sie werden von Gluonen miteinander verbunden – vom Englischen „glue“für Kleber.
Heute glaubt man, dass einige Millionstelsekunden nach dem Urknall, bei Temperaturen von über 2000 Milliarden Grad Celsius, Quarks und Gluonen nicht in zusammengesetzten Teilchen eingesperrt waren, sondern im sogenannten Quark-Gluon-Plasma frei existierten. „Wir wollen das QuarkGluon-Plasma erzeugen“, sagte Physiker Robert Münzer von der Universität Frankfurt, mitverantwortlich für das Experiment.
Damit Plasma entsteht, muss Kernmaterie erhitzt werden. Sehr stark erhitzt werden. „Wir brauchen bis zu 200 000 Mal die Kerntemperatur der Sonne“, sagte Münzer. Der Moment, in dem Blei-Ionen in Quarks und Gluonen zerfallen, hält weniger als eine Trilliardstelsekunde an. Dabei werden Teilchen erzeugt, die aus dem Beschleuniger fliegen. Es sind etwa 4000 pro Bleikern-Kollision, ihre Spuren können von Münzer und seinen Kollegen mit Messinstrumenten erfasst und analysiert werden. Aus den Ergebnissen lässt sich auf die Entstehung von Materie kurz nach dem Urknall rückschließen, so die Hoffnung.
Seit Blei-Ionen in entgegengesetzter Richtung durch den Beschleuniger gejagt werden, ist Münzer in Daueralarmbereitschaft, auch um vier Uhr morgens. „Ich schlafe dann praktisch neben meinem Telefon“, sagte er. Probleme mit Druck, Temperatur oder der Hochspannung müssen sofort behoben werden, damit die Teilchen weiter gemessen werden können.
Je mehr Daten, desto mehr lernen die Physiker über die Anfänge des Universums. Physiker vom GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt sowie von den Universitäten Heidelberg, Münster und Breslau haben gerade erst gezeigt, wie wertvoll „Alice“ist. Sie konnten anhand der Experimente theoretische Vorhersagen bestätigen, etwa, dass aus Quark-Gluon-Plasma bei 156 Megaelektronenvolt Materiebausteine wie Protonen, Neutronen oder Atomkerne hervorgehen. „Das entspricht einer Temperatur, die 120000 Mal heißer ist als das Innere der Sonne“, berichteten sie.
Wenn der Beschleuniger nach der Wartung wieder hochfährt, soll die Maschine noch leistungsstärker sein. Die Physiker bekommen zur Zeit eine Milliarde Protonenkollisionen pro Sekunde. In ein paar Jahren sollen es fünf Milliarden sein. Auch die „Alice“-Physiker profitieren. „Mit unseren Blei-Ionen bekommen wir heute etwa 10 000 Kollisionen pro Sekunde“, sagte Münzer. „Nach dem Umbau werden es 50000 sein.“Die dabei entstehenden riesigen zusätzlichen Datenmengen können mit neuen Messinstrumenten dann verarbeitet werden. Christine Oelrich, dpa/AZ