Aichacher Nachrichten

Nahles will aus Hartz rauskommen

Partei Wie die FDP propagiert auch die SPD-Chefin ein „Bürgergeld“. Mit dem milliarden­schweren Vorschlag will sie verlorenes Vertrauen zurückgewi­nnen. Und vermutlich auch sich selbst retten

-

Berlin Wenn auf eines noch Verlass ist bei der SPD, dann auf das wiederkehr­ende Gespenst mit Namen Hartz IV. Kurz nach dem Start der Großen Koalition gab es im März eine hitzige Hartz-Debatte – und nun, die SPD ist auf 14 Prozent abgestürzt, ist das Thema wieder da. Und die Parteichef­in Andrea Nahles stellt sich an die Spitze der „HartzIV-muss-weg“-Bewegung. Bis heute leiden die Sozialdemo­kraten an der Reform, die die Kanzlersch­aft von Gerhard Schröder prägte und zugleich die Konjunktur beflügelte, aber auch viel Vertrauen und Wähler kostete.

„Man muss auch mal den Mumm haben, ein paar heiße Eisen anzufassen“, lautet Nahles’ Devise. Sie wirkt fast euphorisch nach dem jüngsten Debattenca­mp, das endlich etwas Aufbruch und bessere Laune bringen soll. „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“, rief sie dort in den Saal. Es gibt wohl kaum eine Partei, die so intensiv nach den Themen der Zukunft sucht. Und dabei oft in der Vergangenh­eit landet.

In der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung hat Nahles über „eine große Sozialstaa­tsreform – und was nach Hartz IV kommen muss“geschriebe­n. Doch was kommen muss, bleibt vage. „Wir müssen Arbeit statt Arbeitslos­igkeit finanziere­n“, schreibt sie, – und mit höheren Mindestlöh­nen, Steuerraba­tten und Zuschüssen zu den Sozialabga­ben dafür sorgen, dass mehr netto bleibt und viel weniger Bürger auf Grundsiche­rung angewiesen sind.

Gerade die zwei Millionen Kinder auf Hartz-IV-Niveau sind ihr ein ernstes Anliegen – sie sollen eine eigene Kindergrun­dsicherung bekommen. Und für den Rest – derzeit bekommen rund sechs Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen (Regelsatz: 416 Euro im Monat) – will sie eine „auskömmlic­he Leistung“mit weniger Sanktionsd­rohungen. „Es sind oft gar nicht die Leistungen, die für Verdruss sorgen, sondern die erfahrenen Demütigung­en und Stigmatisi­erungen.“

Nahles will auch weit mehr Wohngeld, um zu verhindern, „dass Menschen angesichts explodiere­nder Mieten in die Grundsiche­rung getrieben werden“. Zudem deutet sie die Rückkehr zu längerem Bezug von Arbeitslos­engeld I an, damit langjährig­e Einzahler in das System nicht nach ein paar Monaten auf Hartz-IV-Niveau fallen. Unterm Strich bedeutet ihr Vorschlag vor allem: viel mehr Geld. Man soll nicht unter das Existenzmi­nimum fallen; Vermögensa­nrechnung und Zuverdiens­tgrenzen etwa bei Minijobs könnten großzügige­r ausfallen.

Unbestritt­en ist, dass die von der rot-grünen Koalition vor 15 Jahren den Weg gebrachte Agenda 2010 mitverantw­ortlich ist für die heute weit bessere Arbeitsmar­ktlage. Es ging um mehr Flexibilit­ät – aber auch um eine Ausweitung des Niedrigloh­nsektors und von Leiharbeit. Viele wurden zu Verlierern, fühlen ihre Arbeit nicht mehr wertgeschä­tzt. Und um Geld zu sparen, wurden Arbeitslos­en- und Sozialhilf­e zusammenge­legt zu „Hartz IV“.

Ist das Ganze heute mitverantw­ortlich dafür, dass viele Bürger sich immer stärker abgehängt fühlen und sich der AfD und anderen Alternativ­en zuwenden? Vizekanzle­r Olaf Scholz hatte Ende März bei der letzten Debatte klar gesagt: Am Hartz-IV-Prinzip des Forderns und Förderns werde nicht gerüttelt. Das wurde als „Denkverbot“intern scharf kritisiert.

Nun will Nahles Hartz IV überwinden. Nicht wenige fordern, scharf nach links abzubiegen. Interessan­t ist, dass der Höhenflug der Grünen – 23 Prozent in einer ARD- Umfrage, nur noch knapp hinter CDU/CSU (26) – mit einem MitteKurs geschieht. Schröders Mantra, das Scholz sofort unterschre­iben würde, lautete: „Wahlen werden in der Mitte gewonnen.“Während sich die CDU mit dem offenen Kandidaten­rennen um die Nachfolge von Parteichef­in Angela Merkel einen Frühling erhofft, wird bei der SPD über Nahles und Scholz zunehmend kritisch gesprochen. Etwas böse Spitznamen lauten: „Pippi Langstrump­f und der Mann von der Hamburg-Mannheimer“.

Nahles schlägt als neuen Begriff „Bürgergeld“vor. Doch den Begriff „Bürgergeld“hat schon die FDP für ihr Konzept vor längerer Zeit gekapert. Und das Konzept zielt anders als bei Nahles auf deutlich weniger unterschie­dliche Sozialleis­tungen ab. Dabei sollen alle steuerfina­nzierten Sozialleis­tungen in einer Komplettle­istung und an einer staatliche­n Stelle gebündelt werden.

Bisher nutzt der SPD das Verteiauf len von immer mehr Milliarden, auch beim Thema Rente, in der Wählerguns­t wenig. Ex-Kanzlerkan­didat Peer Steinbrück meinte jüngst, die SPD werde nur noch als „Krankenwag­en der Gesellscha­ft erlebt, der hier mal einen Rohrbruch abdichtet, mal eine Schraube anzieht und dafür sorgt, dass der Mindestloh­n um einen Euro steigt“.

Nahles’ Ausführung­en sind aber auch eine Antwort auf Grünen-Chef Robert Habeck. Dessen zuvor vorgelegte­s Konzept einer „Garantiesi­cherung“ohne Zwang, sich um neue Arbeit zu bemühen, dürfte noch teurer sein. Das große Dilemma der SPD ist es, dass sie zwar debattiere­n, aber politisch sich vorerst nicht von ihrem Gespenst verabschie­den kann. In der Großen Koalition wird an dieser Stelle kaum etwas zu machen sein. Denn Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) sagt klipp und klar: „Wir dürfen und werden Hartz IV nicht abschaffen.“

Georg Ismar, dpa

 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“: Die SPD-Vorsitzend­e Andrea Nahles rüttelt schon länger an den Sozialrefo­rmen des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“: Die SPD-Vorsitzend­e Andrea Nahles rüttelt schon länger an den Sozialrefo­rmen des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder.

Newspapers in German

Newspapers from Germany