Aichacher Nachrichten

Wenn der Verein zur Familie wird

Titel-Thema Franz Hell ist glühender Fan des TSV 1860 München. Daran zerbrach seine Ehe. Das Bedauern darüber hält sich in Grenzen – Glück findet der Anhänger an anderer Stelle

- VON FABIAN KLUGE

München/Augsburg Eineinhalb Jahre ist es nun her, als Franz Hell ins Bodenlose fiel. Gerade ist sein Verein, der TSV 1860 München, abgestiege­n. Von der zweiten geht es aufgrund von Lizenzprob­lemen direkt in die vierte Liga – und damit in den Amateur-Fußball. „Ich wusste nicht, wie es weitergeht“, erinnert sich der 65-Jährige heute. Einen knappen Monat lang habe bei ihm der Zustand der Ohnmacht, der Trauer angehalten.

Es sind diese Momente, in denen Hell ins Regal greift und Videos herausnimm­t. Aufnahmen aus früheren, besseren Zeiten. Etwa als die Münchner Löwen deutscher Meister wurden oder Mitte der 90er Jahre wieder in die Bundesliga aufstiegen. „Wenn es mir ganz schlecht geht, dann hole ich diese Erinnerung­en wieder hoch“, erklärt Hell.

Wie kann es sein, dass glühende Fußball-Fans ihr persönlich­es Glück von einem Spiel abhängig machen, bei dem sie noch nicht einmal mitspielen dürfen? Harald Lange, Direktor des Instituts für Fanforschu­ng und Professor an der Universitä­t Würzburg, hat darauf eine Antwort: „Alles lässt sich am Thema Bedeutung festmachen. Obwohl mir keine direkten persönlich­en Voroder Nachteile entstehen, kann ich ein Ereignis als echt erleben, wenn ich mich vollends damit identifizi­eren kann.“

Eine entscheide­nde Rolle spielt dabei die Bindung. „Sie ist für uns Menschen überlebens­notwendig und bedeutet ein enormes Glück“, erklärt der Forscher. Obwohl wir in einer Zeit leben, in der Bindungen immer lockerer werden, so falle beim Fan-Dasein auf, dass eine FanBindung absolut ehrlich und treu ist. Doch Lange betont: „Es stellt sich die Frage nach der Nachhaltig­keit eines solchen Glücksgefü­hls. Denn Fans haben ein tragisches Los gezogen: Sie stehen am Seitenrand, haben auf nichts Einfluss, sind ohnmächtig.“

Franz Hell, das muss man wissen, ist kein gewöhnlich­er Fußball-Fan: Sein Vater hat ihn weiß-blau erzogen. An Hells zehntem Geburtstag war er zum ersten Mal im Stadion.

war das, die Bundesliga ging gerade an den Start, der FC Bayern spielte noch in der zweiten Liga. In den folgenden 55 Jahren wird Hell genau zwei Heimspiele seiner Löwen nicht live im Stadion sehen: „Einmal stand eine Schulaufga­be an und einmal war ich bei den Olympische­n Spielen in Sydney.“Auch von den Auswärtsau­ftritten verpasst der Edel-Fan nahezu keinen live vor Ort.

Natürlich hat das Einfluss auf die Familie: „Vor Feiern schauen meine Verwandten in den Spielplan und legen sie so, dass da kein Spiel der Sechziger ist“, sagt Hell. Kompromiss­e, die seine Frau irgendwann nicht mehr eingehen wollte. Sie habe ihn vor die Wahl gestellt: Sie oder die Löwen. Für die Entscheidu­ng habe der Münchner nicht lange gebraucht: „Wenn man ein Hobby so intensiv auslebt wie ich, ist kein Platz für eine Beziehung. Und ich habe es nie bereut. Die schönsten Momente meines Lebens hatte ich mit den Löwen.“

Fan-Forscher Lange kennt solche Entscheidu­ngen zwischen Partner und Verein: „Der Fan fühlt sich nicht verstanden, das Umfeld sieht in der tief gelebten Emotionali­tät zum Verein eine Konkurrenz – so sind Konflikte vorprogram­miert.“Wenn der Fan aus seinem Umfeld nur Abneigung und Distanz erfährt, seien das Alarmsigna­le auf dem Weg zum persönlich­en Unglück, zur Isolation. Lange sagt daher ganz entschiede­n: „Man muss sich schon fragen: Was ist die Realität und was ist das Spiel? Wenn sich ein Fan für den Verein und gegen den Partner entscheide­t, ist das eine Form von Unglück.“Zwar könne das Gefühl nach einem Sieg das Unglück eine gewisse Zeit kaschieren, aber: „Das Glück mit einem Partner hat eine ganz an1963 dere Qualität“, stellt Lange klar. Hell und Lange werden in diesem Bereich wohl auf keinen gemeinsame­n Nenner kommen. „1860 ist ein Teil meines Lebens – mehr als meine Frau jemals war. Der Verein ist wie meine Familie“, sagt der Münchner und hält inne. Nach kurzer Zeit schiebt er etwas leiser nach: „Manchmal kommen einem schon Zweifel.“

Ob die Zweifel irgendwann ausreichen, um 1860 München hinten anzustelle­n? „Nein. Da würde mir einfach etwas abgehen. Schon in Länderspie­lpausen, wenn die Sechziger am Wochenende nicht spielen, fehlt einfach was.“Rational zu erklären, vor allem für Menschen, die keine Fans sind, ist Hells Verhalten wohl nicht. Auch er selbst kann nur einen Ansatz nennen: „Vielleicht ist Fan-Sein irrational. Aber es spielt sich auch nicht im Kopf ab, sondern im Bauch und im Herzen.“

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Foto: dpa-Archiv Als Fan des TSV 1860 München ist es unabdingba­r, eine gewisse Leidensfäh­igkeit zu haben. Umso glückliche­r stimmen einen die Erfolge der Löwen. Manch Löwen-Fan opfert dafür sogar seine Ehe.
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Franz Hell
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