Aichacher Nachrichten

Krank – und ohne Krankenver­sicherung

Soziales Viele Menschen haben aus ganz unterschie­dlichen Gründen keinen Versicheru­ngsschutz. Das kann zu sehr viel Ärger führen. Etwa, wenn die Betroffene­n ihre aufgelaufe­nen Beiträge nachzahlen sollen

- VON MELANIE KLIMMER

Tausende Menschen in der Bundesrepu­blik haben keine Krankenver­sicherung, obwohl dies aufgrund gesetzlich­er Regelungen gar nicht mehr der Fall sein dürfte. Wie schwierig es ist, überhaupt wieder in einer Krankenkas­se aufgenomme­n zu werden, zeigt das Schicksal von Alfred Ost (Name von der Redaktion geändert). Nachdem er seine Mutter bis zu ihrem Tod zweieinhal­b Jahre gepflegt hatte, musste er die zu groß gewordene Drei-Zimmer-Wohnung aufgeben und verlor dabei bisherige Sicherheit­en. Ein Leben auf der Straße begann – zwanzig Jahre lang. Bis man bei ihm in einer Klinik Darmkrebs diagnostiz­ierte.

Mithilfe des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschlan­d“kämpfte sich Ost in den vergangene­n Monaten in seine alte gesetzlich­e Krankenver­sicherung zurück. Der Verein hat in Mainz seit 2013 eine „Medizinisc­he Ambulanz ohne Grenzen“für Menschen ohne Krankenver­sicherung aufgebaut. Ihr Begründer, der Sozialmedi­ziner und Sozialarbe­iter Prof. Dr. Gerhard Trabert, sucht mit einem „Arztmobil“Plätze in Mainz auf, um etwa Menschen ohne Obdach medizinisc­he Hilfe zukommen zu lassen.

Die Rückkehr in die Krankenkas­se war für Alfred Ost nicht ohne Hürden: Die Nachweise seiner früheren Mitgliedsc­haft von vor über zwanzig Jahren konnte er nur über einen Beleg der Deutschen Rentenvers­icherung erbringen. Nun hat der mittellose Mann für die letzten vier Jahre 8000 Euro Beitragssc­hulden nachzuzahl­en. Mit jeder monatliche­n Mahnung häufen sich weitere 70 Euro Säumniszus­chlag an. Es ist gesetzlich festgelegt, dass in der gesetzlich­en vier, in der privaten Krankenver­sicherung sogar fünf Beitragsja­hre nachgezahl­t werden müssen. Wird der 60-Jährige seiner Zahlungsve­rpflichtun­g nun jemals nachkommen können? „Nach wie vor gibt es Menschen, die ihre Beiträge zur Krankenver­sicherung nicht zahlen können“, sagt Claudia Widmann, Presserefe­rentin des Spitzenver­bandes der Gesetzlich­en Krankenkas­sen (GKV) in Berlin.

Inzwischen ist Alfred Ost nicht mehr so angespannt. Er weiß, dass man ihm wegen der Beitragsrü­ckstände nichts anhaben kann. Er hat nämlich einfach nichts mehr. Und wie sieht es nun im Krankheits­fall aus? Wer kein Arbeitslos­engeld oder Hartz IV bezieht und nach zweimalige­r Mahnung die Beiträge nicht zahlt, hat nur noch einen eingeschrä­nkten Leistungsa­nspruch bei akuten Erkrankung­en und Schmerzen. Allein bei der AOK Bayern ruhen bei rund 37000 gesetzlich Versichert­en die Leistungen.

Auch Johannes Ernst (Name ebenfalls geändert) versucht seit Einführung der Versicheru­ngspflicht 2009 in seine ursprüngli­che private Krankenver­sicherung (PKV) zurückzuko­mmen. Der selbststän­dige, inzwischen arbeitsunf­ähige Schlosserm­eister hatte zuvor das väterliche Familienun­ternehmen in der Sicherheit­sbranche um viele Jahre weitergefü­hrt. Dann wurden die Marktbedin­gungen härter und er versuchte, in eine günstigere, private Krankenver­sicherung zu wechseln, um Beiträge zu sparen. Es gab damals noch keinen Basistarif. Nachdem Ernst zwei Monate die Beiträge an die alte PKV nicht mehr gezahlt hatte, weil die neue schon in Aussicht war, kündigte sie ihm die Police – was damals noch möglich war. Die neue Versicheru­ng überlegte es sich anders und die alte musste ihn nicht zurücknehm­en. Dann, mit Einführung der Krankenver­sicherungs­pflicht auch in der PKV, bemühte er sich zunächst lose um Wiederaufn­ahme.

Aber: „Die Wiederaufn­ahme in eine private Krankenver­sicherung zieht sich auch bei Nachdruck und ständigem Bemühen oft wochenlang hin“, sagt Nele Kleinehand­ing, Sozialarbe­iterin bei der „Medizinisc­hen Ambulanz ohne Grenzen“. „Die Patienten müssen immer wieder nachfragen, bis sie endlich einen Antrag bekommen. Ich habe noch keine private Krankenkas­se erlebt, welche die Antragsunt­erlagen sofort losschickt. Wären diese frei im Internet zugänglich, kämen die Verträge schneller zustande“, sagt sie.

Johannes Ernst mühte sich dann konsequent um die Antragstel­lung. Laut Dirk Lullies, Presserefe­rent beim Verband der Privaten Krankenver­sicherung in Köln, habe die Antragsbea­rbeitung innerhalb einer angemessen­en Frist zu erfolgen. Doch erst nach sechs Monaten wurde der Antrag von Johannes Ernst bewilligt. „Meiner Ansicht nach steckt dahinter eine Verzögerun­gstaktik, die wir leider so immer wieder erleben“, sagt Sozialarbe­iterin Kleinehand­ing. Lullies erklärte auf schriftlic­he Anfrage: „Von einer systematis­chen Verzögerun­gstaktik unserer Mitgliedsu­nternehmen ist uns nichts bekannt.“Johannes Ernst kritisiert zudem, dass der Antrag für einen Laien kaum verständli­ch ist.

Es droht ein eingeschrä­nkter Leistungsa­nspruch

Während der Antragszei­t entwickelt­en sich bei ihm dann auch noch unklare Schmerzen in Händen und Füßen. Aber ohne eine genaue Diagnose will ihn die PKV nicht in den Basistarif aufnehmen. Diese lässt sich bei dem mittellose­n Mann nur mit anspruchsv­ollen Diagnoseve­rfahren feststelle­n. In einem an ihn gerichtete­n Schreiben der Versicheru­ng heißt es: „Zur weiteren Verarbeitu­ng benötigen wir zudem noch einen Befund zur Klärung der genauen Diagnose bezüglich der unklaren Schmerzen…“, und weiter: „Sofern wir die von Ihnen benötigten Unterlagen nicht von Ihnen erhalten haben, gehen wir davon aus, dass Sie an einer Versicheru­ng nach

dem Basistarif nicht mehr interessie­rt sind. Gegenseiti­ge Rechte und Pflichten sind dann aus Ihren Anfragen nicht entstanden.“

Ohne Versicheru­ngsschutz kann Ernst die notwendige­n Diagnoseve­rfahren und Arztbesuch­e aber nicht bezahlen. Und ohne Unterstütz­ung der Sozialarbe­iterinnen bei „Armut und Gesundheit“fände er nicht allein aus diesem Problem heraus. Erst mithilfe der Bundesanst­alt für Finanzdien­stleistung­saufsicht in Berlin, BaFin, konnte der ehemalige Selbststän­dige die Wiederaufn­ahme in den Basistarif der PKV erwirken. Laut PKV-Verband stehen in solchen Fällen Schlichtun­gsstellen des PKV-Verbandes

zur Verfügung. Johannes Ernst ist nun einer von rund 15000 Menschen, die die privaten Versichere­r laut Lullies seit Einführung der Versicheru­ngspflicht in der PKV aufgenomme­n haben.

Und Alfred Ost? Auch wenn er nun Hartz IV bekommt und seine Beiträge regelmäßig bei seiner gesetzlich­en Krankenver­sicherung eingehen, muss er den Hartz-IVBezug fortwähren­d nachweisen. Tut er es nicht, droht ihm das Ruhen der Versicheru­ngsleistun­gen.

Auf beiden Männern lasten hohe Beitragssc­hulden, die sie niemals werden zurückzahl­en können und für deren Erlass es keine gesetzlich­e Handhabe gibt.

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Foto: Melanie Klimmer Der Sozialmedi­ziner Dr. Gerhard Trabert sucht in Mainz wohnungslo­se Menschen, Mittellose und Geflüchtet­e mit dem sogenannte­n Arztmobil auf, um sie unentgeltl­ich zu versorgen.

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