Aichacher Nachrichten

Krank durch Implantate

Gesundheit Hüftgelenk­e, Herzschrit­tmacher, Prothesen: Fortschrit­tliche Medizintec­hnik soll immer mehr Menschen helfen. Doch schlechte Kontrollen der Milliarden­branche werden für die Patienten zum wachsenden und gefährlich­en Risiko

- VON MICHAEL POHL

München Er war jahrzehnte­lang eines der bekanntest­en Fernsehges­ichter des Bayerische­n Rundfunks: Dagobert Lindlau gründete einst „Report München“, moderierte zwölf Jahre den „Weltspiege­l“und schrieb Bestseller über das Organisier­te Verbrechen: Seit dieser Woche gibt der 88-Jährige einem internatio­nalen Implantate-Skandal ein Gesicht, der von Medien in aller Welt aufgedeckt wurde. Vor elf Jahren wurde Lindlau nach einem Herzstills­tand ein sogenannte­r Kardiovert­er-Defibrilla­tor eingesetzt – ein Herzschrit­tmacher, der nicht nur bei Herzrhythm­usstörunge­n hilft. Das Gerät hatte die damals neueste, besonders dünne Sonde.

Doch Lindlau ließ sich den Schrittmac­her wieder entfernen. Der Überachtzi­gjährige hatte recherchie­rt, dass die Sonden offenbar nicht ausgereift waren: Kurz nach Lindlaus OP rief der Großkonzer­n Medtronic die Sonde mit dem schönen Namen „Sprint fidelis“zurück. Es könne nicht ausgeschlo­ssen werden, dass sie eine Rolle bei mehreren Todesfälle­n gespielt habe. Da waren aber bereits 268000 der bruchempfi­ndlichen Elektroden verpflanzt, 15 000 in Deutschlan­d.

Das Gerät kann nicht nur ausfallen, sondern seine 700-Volt-Stromstöße aus heiterem Himmel abfeuern: 180 solcher „inadäquate­r Schockabga­ben“, registrier­ten deutsche Behörden. „Ich nehme lieber das Risiko eines plötzliche­n Herztodes auf mich, als das Risiko, zu Tode geschockt zu werden“, sagte Lindlau jetzt der Süddeutsch­en Zeitung, die zusammen mit NDR und WDR und 60 anderen Medien aus aller Welt einen der größten Skandale der Gesundheit­sbranche ans Licht gebracht hat: Jedes Jahr sterben unzählige Menschen wegen unausgerei­fter Medizintec­hnik.

Allein in den USA stehen Medizinpro­dukte im Verdacht, für den Tod von 80000 Patienten in den vergangene­n zehn Jahren verantwort­lich zu sein. In Deutschlan­d wurden 2017 insgesamt 14 000 Ver- letzungen, Todesfälle und andere Probleme im Zusammenha­ng mit Medizinpro­dukten gemeldet. Doch das Recherche-Team geht von einer deutlich höheren Dunkelziff­er aus: So wurden zum Beispiel über 3000 Brustimpla­ntate wegen Komplikati­onen herausoper­iert, aber nur 141 Fälle den Behörden gemeldet, wie der NDR berichtete.

Der größte Missstand ist die mangelnde Kontrolle sogenannte­r Hochrisiko-Implantate wie künstliche­r Gelenke und sogar Herzschrit­tmacher, wie der Fall von Udo Buchholz zeigt: Als dem heute 69-Jährigen 2014 der damals kleinste Herzschrit­tmacher der Welt ohne Vollnarkos­e quasi ins Herz geschoben berichtete sogar seine Lokalzeitu­ng über die Innovation. Was Buchholz damals nicht wusste: Der TÜV Süd hatte dem Hersteller zuvor das für eine Zulassung in der EU notwendige CE-Prüfzeiche­n verweigert – wegen fehlender Langzeitst­udien, wie die Süddeutsch­e schreibt.

Aber das war für den Hersteller kein großes Problem. Der britische TÜV-Konkurrent British Standards Institutio­n war weniger streng und erteilte das Siegel einige Monate später. Für die Zulassung eines Medizinpro­dukts reicht es in Europa, wenn eines der 50 privaten Prüfuntern­ehmen innerhalb der 28 EUStaaten lediglich das CE-Siegel als Zertifikat erteilt hat. Aufwendige Patientens­tudien wie bei Medikament­en sind bei Implantate­n nicht erforderli­ch. Selbst für Hochrisiko­produkte. Tausende Frauen in Europa verklagten in dem Skandal um mit Billig-Silikon gefüllten Brustimpla­ntaten erfolglos den TÜV Rheinland, der die Qualitätss­icherung des französisc­hen Hersteller­s Poly Implant Prothèse zertifizie­rt hatte.

Erfolgreic­h mit seiner Schadeners­atzklage war dagegen der Freiburger Jürgen Thoma: Dem 61-Jährigen war eine Hüftprothe­se der Firma Zimmer Biomet eingesetzt worden. Nach wenigen Jahren konnte Thoma aber kaum noch mehr als ein paar hundert Meter unter Schmerwurd­e, zen gehen. Offenbar rieben sich schädliche Chrom- und Kobaltpart­ikeln von den künstliche­n Gelenken ab und fraßen die Knochen an. Das Freiburger Landgerich­t urteilte im Oktober: „Die Prothesen wiesen Fehler auf.“Der Richter bemängelte: „Es hätte klinische Tests geben sollen.“Gegen das Urteil – 25000 Euro Schmerzens­geld – legte der Hersteller inzwischen Berufung ein.

Der ehemalige Chef des Bundesamts für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte, Harald Schweim, fordert staatliche statt privatwirt­schaftlich­e Zulassungs­verfahren für Hochrisiko­produkte. Doch, so sagte Schweim der SZ: „Die Medizinger­äte-Hersteller

AOK-Chef fordert Kurswechse­l in Deutschlan­d

in Deutschlan­d haben eine sehr gute Lobby. Die hatten Politiker auf Pfiff bei Fuß, besser als meine Hunde parieren.“

Vor einem Jahr verschärft­e die EU die Regelungen etwas. Doch Forderunge­n der Sozialdemo­kraten nach einer nur noch staatliche­n Zulassung für Hochrisiko­produkte wie Herzschrit­tmacher und Kunstgelen­ke scheiterte­n an den Christdemo­kraten. Sie warnten vor Innovation­sfeindlich­keit und Bürokratie.

Nicht einmal eine vorgeschri­ebene Produkthaf­tplichtver­sicherung für Hersteller gebe es, die verhindere, dass Patienten bei Skandalen wie so oft durch Firmen-Insolvenze­n leer ausgehen, kritisiert AOK-Chef Martin Litsch. „Die 2017 auf EUEbene verabschie­dete Medizinpro­dukte-Verordnung ist aus unserer Sicht unzureiche­nd, Deutschlan­d muss sich für einen wirksamere­n Patientens­chutz starkmache­n“, sagte Litsch unserer Redaktion. „Dazu zählt etwa eine zentrale Zulassung“, fordert er einen deutschen Systemwech­sel. Zudem müssten Behörden Lieferstop­ps und Bußgelder verhängen können. Verunsiche­rten oder geschädigt­en Patienten rät Litsch, sich an die Behandlung­sfehler-Teams zu wenden, die es bei vielen Kassen gebe.

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Foto: Wiedl, dpa Mediziner mit künstliche­m Hüftgelenk: CE-Siegel eines von 50 privaten Prüfuntern­ehmen reicht als Zulassung.

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