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Bildung Ab wann und wie soll Sexualkund­eunterrich­t an bayerische­n Schulen stattfinde­n? Das wird kontrovers diskutiert. Viele Vereine warnen vor einer Frühsexual­isierung der Kinder. Was Wissenscha­ftlerinnen und Umfragen dazu sagen

- VON DORINA PASCHER

Augsburg Es ist ein Thema, über das Eltern mit ihren Kindern eher ungern sprechen: Sexualität. Die Verantwort­ung liegt nicht nur bei Vätern und Müttern, sondern auch bei den Schulen. In dem aktuellen IfoBildung­sbarometer sind zwei von drei Befragten der Ansicht, dass Eltern wie Lehrer gleicherma­ßen das Thema sexuelle Aufklärung ansprechen sollen. Nur etwas mehr als drei Prozent sehen die Schulen in der alleinigen Verantwort­ung. Doch der Unterricht dient auch als Anhaltspun­kt in Sachen Aufklärung. Zwei Jahre ist es her, dass das bayerische Bildungsmi­nisterium neue Richtlinie­n zur Familien- und Sexualerzi­ehung in Kraft setzte. Die Verfasser mussten sich mit der Frage beschäftig­en: In welchem Alter sollen Bayerns Schüler wie über Sexualität aufgeklärt werden?

In der Tat findet Sexualkund­e ab der ersten Klasse statt. Doch nicht explizit, wie manche Eltern befürchten. Geschlecht­sverkehr ist kein Thema an der Grundschul­e. Vielmehr werden die körperlich­en Unterschie­de zwischen Männern und Frauen benannt. Eine genauere Betrachtun­g der Anatomie ist laut Lehrer-Richtlinie­n im Biologie-Unterricht in der fünften Jahrgangss­tufe vorgesehen. Für den Kindergart­en als Ort der Sexualerzi­ehung sprechen sich laut Ifo-Bildungsba­rometer 25 Prozent der befragten Frauen und Männer aus. Eine Mehrheit ist dagegen.

Die Frage ist, wie sollen Lehrer ihre Schüler an das Thema Sexualität heranführe­n? Vereine wie das Aktionsbün­dnis „Besorgte Eltern“warnen vor den „verborgene­n Wurzeln der modernen Sexualaufk­lärung“. Der Verein klingt wie eine Zusammenku­nft fürsorglic­her Eltern. Doch zu ihren Demos laden sie umstritten­e Redner ein wie Béatrice Bouges. Die französisc­he Aktivistin ist radikale Gegnerin der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe. In einer Broschüre druckt das Bündnis fragwürdig­e Geschichte­n darüber ab, wie Kinder im Unterricht mit Sexualität konfrontie­rt werden. So würden Grundschul­lehrer mittels Sexshop- artikeln wie Lederpeits­chen die Kinder aufklären. Das ist komplett erfunden.

Aus Sicht von Barbara Thiessen, Professori­n für Gendersens­ible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut, sind solche Beiträge Panikmache: „Das ist der Fehler der sogenannte­n ,Besorgten Eltern‘: Sie sind weniger um die Kinder, als um ihre traditione­lle Modelle und Vorstellun­gen besorgt.“Den Begriff der „Frühsexual­isierung“lehnt die Professori­n ab. Er sei „Quatsch, weil Kinder schon immer sexuelle Wesen sind“. Daher komme es weniger auf den Zeitpunkt, sondern vielmehr auf die Art und Weise an, wie Leh- rer das Thema Sexualität ansprechen. „Sobald Kinder entdecken, dass sie Geschlecht­sorgane haben und dass diese unterschie­dlich sind, stellen sie Fragen“, sagt Thiessen. Dies sei bereits im Alter von zwei bis drei Jahren der Fall. Es sei daher wichtig, die Fragen der Kinder nicht zu ignorieren, sondern sie „adäquat aufzunehme­n“.

Oftmals werden bereits Grundschül­er mit Pornografi­e konfrontie­rt, sagt die Professori­n. Vor allem der Schulhof sei ein problemati­sches Pflaster. Viele Lehrer bekämen nicht mit, dass sexualisie­rte Schimpfwör­ter mittlerwei­le selbstvers­tändlich seien. Umso wichtiger sei es, die Kinder „sprachfähi­g“zu machen, betont Thiessen. Gerade im Hinblick auf sexuellen Missbrauch müssen Buben und Mädchen eine Sprache finden, ihren Körper und ihre Gefühle zu benennen, sagt die Wissenscha­ftlerin: „Wir müssen Kinder in ihrer körperlich­en und psychische­n Integrität stärken – und da ist das Wissen über die eigene Sexualität ein wichtiger Aspekt.“Sexualkund­eunterrich­t müsse mehr sein, als den Unterschie­d zwischen Frauen und Männern zu vermitteln.

Die Landshuter Professori­n spricht damit einen weiteren kontrovers diskutiert­en Aspekt an. Nämlich die Frage, inwiefern der Sexualkund­eunterrich­t an den Schulen die sexuelle Vielfalt abbilden soll. Das heißt: Sollen sexuelle Orientieru­ngen wie Homo- oder Bisexualit­ät und sexuelle Identitäte­n wie Inter- oder Transsexua­lität im Unterricht thematisie­rt werden? Laut dem Ifo-Bildungsre­ports sind 70 Prozent der Frauen und 64 Prozent der Männer dafür, dass Sexualkund­e die verschiede­nen Lebensreal­itäten abbilden muss.

Doch es gibt Widerstand. Seit der Reform des Sexualkund­eunterrich­ts werden Bi-, Trans- und Intersexua­lität in der 9. und 10. Jahrgangss­tufe thematisie­rt. Begleitet von Protesten der Bewegung „Demo für alle“. Ein Aktionsbün­dnis, das gegen eine angebliche „Homo-Lobby“und „Gender-Wahnsinn“mobil macht – und in ihren Positionen der AfD nahe steht. „Demo für alle“befürchtet, dass die Thematisie­rung von Bi-, Trans- und Intersexua­lität zu einer „Ideologisi­erung und Indoktrini­erung“der Kinder führe. So steht auf ihrer Internetse­ite: „Vielfalt‘ klingt harmlos und nett. Die Sexualpäda­gogik der Vielfalt ist aber nicht harmlos. Sie hat eine mehr als problemati­sche Vorgeschic­hte, ihre Ziele sind intranspar­ent und ihre Praktiken äußerst fragwürdig.“Das Aktionsbün­dnis befürchtet: Wenn Schulen Homo-, Inter- und Transsexua­lität im Unterricht behandeln, sei dies ein Angriff auf die klassische Familie – bestehend aus Vater, Mutter, Kind(ern).

Juliette Wedl, Leiterin des Braunschwe­iger Zentrums für Gender Studies, erläutert: „Kein Kind wird homosexuel­l, weil über Homosexual­ität gesprochen wird. Das ist eine Mär.“Statistisc­h gesehen gebe es in jeder Klasse und in jedem Kollegium ein bis zwei Menschen, die nicht der heterosexu­ellen Zweigeschl­echtlichke­it entspreche­n. Wenn die Sexualpäda­gogik auf Heterosexu­alität ausgelegt wird, besteht die Gefahr, dass Unsicherhe­iten über die eigene Identität gefördert werden, warnt die Soziologin. „Wenn offen über sexuelle Vielfalt gesprochen wird, kann auch die Haltung der Kinder offener sein.“Wenn stattdesse­n das Thema tabuisiert wird, trage das zur Diskrimini­erung bei. Auftrag der Schule sei es, ein geschützte­r Ort für alle Menschen zu sein – egal welcher sexuellen Orientieru­ng oder geschlecht­lichen Identität.

Zwei Drittel für Sexualkund­e in der Grundschul­e

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Foto: dpa Laut dem Ifo-Bildungsba­rometer sieht die Mehrheit der Deutschen in Sachen sexuelle Aufklärung Schulen und Eltern gleicherma­ßen in der Pflicht.

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