Aichacher Nachrichten

Wie der pädophile Kinderarzt aufflog

Justiz Mediziner Harry S. führt jahrelang ein geheimes Doppellebe­n. Er missbrauch­t Jungs. Die Taten werden immer brutaler. Als die Ermittler ihn verhaften, erleben sie eine Überraschu­ng

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF

Augsburg Am 14. Oktober 2014, einem Dienstag, klingeln abends Polizisten bei Familie S. in Augsburg. Sie fragen nach Sohn Harry, seinerzeit 39. Der angesehene Kinderarzt ist gerade erst aus Hannover zurückgeko­mmen, wo er an der Medizinisc­hen Hochschule arbeitet. Er kommt aus einem Zimmer im Dachgescho­ss, trägt noch Notarztkle­idung. Harry S. ist überrascht, als er die Beamten sieht. Ein Teil der Ermittler zieht sich mit dem Kinderarzt in ein Zimmer zurück. Die anderen Polizisten beginnen, die Dachkammer des Mediziners zu durchsuche­n. Obwohl Harry S. eben erst nach Hause gekommen ist, läuft bereits der Laptop. Er lädt Kinderporn­os aus dem Netz.

S. ist derweil freundlich und zugewandt, berichten die Polizisten. Sie sagen ihm, warum sie da sind: schwerer sexueller Missbrauch kleiner Jungs, Kinderporn­os. Der Kinderarzt sagt, das sei ja Wahnsinn, was so alles passiere. Er habe damit aber nichts zu tun. Ein Polizeibea­mter be- richtet: „Wenn ich die Fakten nicht gekannt hätte, hätte ich ihm wahrschein­lich geglaubt.“So gut verstellt sich der Kinderarzt. Der Haftbefehl wird trotzdem eröffnet, die Ermittler nehmen S. mit. Sein jahrelange­s geheimes Doppellebe­n ist aufgefloge­n.

Doch für den Mediziner ist es wie eine Befreiung. Zumindest sieht er das heute so. „Mein ganzes Leben bestand nur noch aus Lügen. Ich war es gewohnt, etwas zu erfinden“, sagt der 43-Jährige am Montag im Gerichtssa­al in Augsburg, wo ihm nach einer erfolgreic­hen Revision gegen das Urteil von dreizehnei­nhalb Jahren Haft zum zweiten Mal der Prozess gemacht wird. „Gott sei dank ist das Lügengebäu­de zusammenge­brochen“, sagt der Angeklagte. Seine Verteidige­r Moritz Bode und Ralf Schönauer halten die Erleichter­ung für echt. S. arbeite seit Jahren mithilfe eines Therapeute­n an sich. Er sei damals immer weiter in einen Strudel von Straftaten geraten und habe am Ende die Kontrolle verloren.

Dieser Kontrollve­rlust gipfelt am 18. August 2014 im gravierend­sten seiner Verbrechen. In Garbsen bei Hannover spricht S. aus seinem cremefarbe­nen BMW X3 heraus den fünfjährig­en Jayden (gesprochen: „Tscheedn“) auf seinem Puky-Rad an. Er lockt das Kind mit dem Verspreche­n auf Lego-Spielzeug in das Auto, mit dem er auch Notarztein­sätze fährt. Dann bringt er den Jungen in seine Wohnung und macht ihn mit Medikament­en gefügig. Das Narkosemit­tel Midazolam, das er verwendet, wirkt betäubend und trübt zugleich die Erinnerung.

Danach missbrauch­t S. den Jungen und macht Fotos. Er beleidigt und schlägt den Fünfjährig­en sogar, weil der nicht alles mitmacht, was er will. S. befriedigt sich selbst, badet Jayden. Anschließe­nd setzt er den Jungen verstört und benommen vor einer Schule in Hannover aus, 13 Kilometer entfernt von zu Hause. Es ist der brutale Höhepunkt eines Lebens, das immer mehr abgedrifte­t war.

Angesichts des Aufsehen erregenden Verbrechen­s sind die Menschen in Hannover extrem beunruhigt, die Polizei ist in höchster Alarmberei­tschaft. Eine Sonderkomm­ission wird gebildet. Bald gibt es einen ersten Erfolg. In Jaydens Unterhose wird die DNA-Spur eines unbekannte­n Mannes gesichert. Der Abgleich mit der Datenbank des Bundeskrim­inalamts ergibt einen sogenannte­n Spurzu-Spur-Treffer: Dieselbe DNA ist bei Missbrauch­sfällen in Augsburg und München gefunden worden. Die Ermittler erwirken eine Funkzellen­auswertung. Ergebnis: Nur ein Handy war in Hannover und Augsburg zur jeweiligen Tatzeit eingeloggt: Das Handy von Harry S.

Auch die DNA-Spur ist ein Volltreffe­r. Dennoch streitet Harry S. nach der Verhaftung zunächst alles ab. Doch aufgeschre­ckt durch die Berichters­tattung unserer Redaktion über den Fall melden sich betroffene Familien bei der Polizei. Sie berichten von Ausflügen mit Jungs, die der Kinderarzt organisier­t hat und von Trennungsf­amilien, in denen S. wie ein Ersatzvate­r aufgetrete­n ist. Erst nach und nach wird das Ausmaß der Verbrechen klar. In manchen Fällen erfahren die Jungs erst von der Polizei, dass sie missbrauch­t worden sind. Am Ende stehen die Namen von 21 Opfern in der Anklagesch­rift.

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