Der Bombenleger
Prozess Das Attentat im April 2017 auf die Fußball-Mannschaft von Borussia Dortmund war ein Mordversuch. So sieht es das Gericht. Wie dieses Verbrechen das ganze Land aufwühlte und der Angeklagte Sergej W. auf das Urteil reagiert
Dortmund Die Hände wie zum Gebet gefaltet. Keine erkennbare Regung. So sitzt Sergej W. im Saal 130 des Dortmunder Landgerichts, als der Vorsitzende Richter Peter Windgätter das Urteil verkündet. 14 Jahre Haft, unter anderem wegen versuchten Mordes in 29 Fällen, und diverse Schmerzensgeldzahlungen. Das ist die Strafe dafür, dass der 29-Jährige am 11. April 2017 den Sprengstoffanschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund verübt hat. W. habe „billigend in Kauf genommen (...), dass Bus-Insassen zu Tode kommen“, sagt Windgätter. Drei Mordmerkmale seien vorhanden: „Heimtücke, Habgier und der Einsatz gemeingefährlicher Mittel.“Einen direkten Mordvorsatz konnte die Staatsanwaltschaft hingegen nicht nachweisen. Damit bleibt Sergej W. eine lebenslange Haft erspart.
Am Ende dieses denkwürdigen und in Teilen sehr kontrovers geführten Prozesses sind irgendwie alle halbwegs zufrieden, bis auf Sergej W. natürlich. Der im Alter von 13 Jahren aus Russland eingewanderte Elektrotechniker sei „ein sensibler stiller Mensch“und nach diesem Prozess „psychisch und wirtschaftlich zerstört“, sagt sein Verteidiger Carl Heydenreich. Auch weil aufgrund von Indiskretionen intime Details zu seinem Charakter, seinen privaten Problemen und seiner geistigen Verfassung öffentlich verbreitet worden seien. Über das Urteil sei er dennoch „erleichtert und froh“, so Heydenreich. Der Anwalt lässt wie Oberstaatsanwalt Carsten Dombert offen, ob er gegen das Urteil vorgehen wird.
Richter Windgätter hat das Verbrechen schon früh als höchst „außergewöhnlich“hinsichtlich der „Tatausführung, der Motivation und der potenziellen Opfer“bezeichnet. Denn die bloße Schuldfrage war früh geklärt. Schon am zweiten Prozesstag hat W. ein Geständnis abgelegt, zugleich allerdings be- die Sprengsätze ganz bewusst so konstruiert und platziert zu haben, dass keine Menschen ums Leben kommen. Die Frage vor Gericht lautete damit über Monate hinweg, ob es sich bei der Tat tatsächlich um einen vorsätzlichen Mordversuch handelte oder ob W. die Fußballmannschaft nur bedrohen und womöglich so zum sportlichen Misserfolg beitragen wollte. Der Plan sah vor, dass die Explosionen einen Einbruch des Aktienkurses der Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA verursachen, was W. durch zuvor erworbene Put-Optionsscheine, quasi Wetten, einen hohen Gewinn im sechsstelligen Bereich verschaffen sollte.
Oberstaatsanwalt Dombert bezweifelt dagegen, dass der Angeklagte tatsächlich Todesopfer vermeiden wollte. Vorige Woche legte er in einem eineinhalbstündigen Plädoyer dar, weshalb er viele der Angaben von W. für unglaubwürdig hält. Die Behauptung, er habe die Bomben eigens so gebaut, dass nur Sachschäden entstehen, bezeichnete er als „Blödsinn“und „hanebüchenen Unsinn“. Und es gab jede Menge Indizien, die diese Ansicht stützten. Mehrere Sachverständige sind zu dem Schluss gekommen, dass die Sprengsätze „nicht beherrschbar“waren.
Verteidiger Heydenreich hielt eine Verurteilung wegen Mordversuchs in seinem Schlussplädoyer dennoch für ausgeschlossen. Es „war keine Tötungsabsicht vorhanden“, erklärte der Anwalt. Sein Mandant habe darauf vertraut, „dass er die Bomben kontrollieren konnte“. Hinzu kämen erhebliche strafmildernde Umstände, schließlich habe Sergej W. kurz nach Prozessbeginn seine Tat gestanden und sei überaus kooperativ gewesen.
Die Richter finden am Ende einen Weg der Mitte. „Trotz erheblicher Strafverschärfungen“sei „eine lebenslange Strafe nicht unerlässlich“, sagt Windgätter. Aber der Mordversuch bleibt.
In jedem Fall ist das Verbrechen einer der erstaunlichsten Kriminalfälle der vergangenen Jahre. Denn durch so einen Anschlag Börsenkurse zu beeinflussen und damit Gewinne zu machen, ist ein ebenso wie ungewöhnlicher Plan. Zum Glück flogen die meisten der 65 fingerlangen Metallbolzen, die in Harzplatten eingegossen waren und zu tödlichen Waffen hätten werden können, über das schwarzgelbe Gefährt hinweg.
Es war der frühe Abend des 11. April 2017, als sich der Mannschaftsbus der Borussia vor dem Hotel „l’Arrivée“am Dortmunder Stadtrand in Bewegung setzte. W. hatte seine Bomben in der Nacht zuvor in einem nahegelegenen Waldstück gebaut und mit einigem Aufwand – wenn auch für Experten leicht durchschaubar – Spuren gehauptet, legt, die auf einen Anschlag des Islamischen Staats (IS) hindeuten sollten. Es stand das Champions-League-Viertelfinale gegen AS Monaco bevor. Für den damaligen Trainer Thomas Tuchel und viele Spieler war dieses Duell eine Art zwischenzeitlicher Karrierehöhepunkt. Die Hoffnung auf den Einzug ins Halbfinale, in den Kreis der besten vier Klubmannschaften des Kontinents, war groß. Monaco war kein übermächtiger Gegner. Doch die Bomben zerstörten den Traum.
Im Bus brach Chaos aus. „Auf den Boden!“, brüllten einige. Der damalige Spieler Nuri Sahin erinkomplexer nerte sich in einem Beitrag für die Internet-Plattform Players Tribune an dramatische Szenen: „Meine Gedanken rasten. Innerhalb von zwei Sekunden lief mein ganzes Leben an mir vorbei. Ich dachte ans Sterben, aber auch ans Leben. Dann dachte ich an meine Familie. Ich sah meinen fünfjährigen Sohn, meine einjährige Tochter und meine Frau. Ich konnte sie bei mir fühlen.“
Sergej W. bestellte im l’Arrivée gerade ein Steak vom Lavagrill mit Süßkartoffeln.
Nach den Explosionen wurde das Spiel abgesagt und auf den folgenden Tag verschoben. Die Mannschaft funktionierte zwar, doch die kostbare Halbfinal-Chance war so gut wie dahin. Die Spieler waren traumatisiert. Erst nach dem Abpfiff, nach dem 2:3, „als der Druck abfiel, kam plötzlich alles hoch, viele haben offen geweint“, erzählte Matthias Ginter Wochen später. „In den Tagen danach hat jeder mit jedem gesprochen, in kleinen Gruppen oder vor der gesamten Mannschaft. Wie man schläft, wie es weitergehen soll, wie sich die Sicherheitsvorkehrungen ändern müssen.“
Ginter hat schon die Anschläge von Paris 2015 miterlebt, als er während eines Spiels mit der Nationalmannschaft gegen Frankreich die Detonationen draußen vor dem Stadion hörte und eine angstvolle Nacht in der Kabine verbringen musste. Hätte in Dortmund nicht „mehr als die Hälfte der Sprengladung den Bus verfehlt, säße ich vielleicht nicht hier“, sagte der jetzige Mönchengladbacher später.
Körperlich verletzt wurden lediglich der Spanier Marc Bartra, der am Arm operiert werden musste, und ein Polizist einer Motorrad-Eskorte, der ein Knalltrauma erlitt und seither arbeitsunfähig ist. Etliche Spieler allerdings berichteten an den insgesamt 31 Prozesstagen von ständig wiederkehrenden Schlafstörungen und Angstzuständen, einige befinden sich immer noch in Behandlung. Auch die sportlich komplizierte Folgesaison wird immer wieder mit dem Anschlag in Verbindung gebracht. In der Verhandlung ergriff W. irgendwann das Wort und sagte: „Ich möchte mich bei allen entschuldigen.“
Trainer Tuchel und viele Fußballer waren am Tag nach dem Anschlag auch deshalb so entsetzt, weil sie eben gleich am Tag nach dem fürchterlichen Erlebnis das Spiel gegen Monaco nachholen mussten. „Wie Tiere“seien sie behandelt worden, sagte der Spieler Sokratis. Wochenlang stand der Vorwurf im Raum, dass die Dortmunder Klubführung viel zu leichtfertig einer schnellen Neuansetzung der Partie zugestimmt habe. Die ohnehin schon durch interne Konflikte belastete Stimmung im Verein wurde immer schlechter, am Saisonende musste Tuchel den BVB verlassen. Später sagte der heutige Trainer von Paris St. Germain vor Gericht, dass er ohne diesen Anschlag womöglich immer noch beim BVB wäre.
Die Folgen des Anschlags rief auch Rechtsanwalt Alfons Becker in Erinnerung, der die Spieler als Nebenkläger vertrat. „Sie sind alle froh, es lebend überstanden zu haben“, sagt er. Und der glücklichste Profi sei wohl der mittlerweile in
Die bloße Schuldfrage war früh geklärt
Profi Erik Durm hatte besonders viel Glück
England bei Huddersfield spielende Erik Durm. In dessen Sitz im Bus war ein Metallsplitter eingedrungen. Doch Durms Stammplatz blieb an dem Tag leer. Er war gar nicht im Aufgebot – verletzungsbedingt.
Sergej W. hinterließ in den meisten Phasen des Prozesses einen seltsam abwesenden Eindruck. Er sprach selten, einem psychologischen Gutachten zur Folge leidet er unter einer narzisstischen Störung und einem unterentwickelten Selbstwertgefühl. Kurz vor seinem verbrecherischen Plan war er von seiner Freundin verlassen worden, quälte sich mit Suizidgedanken. Er habe den Gewinn seinen Eltern vererben wollten, behauptete er irgendwann.
An diesem letzten Prozesstag hat er sich noch einmal schick gemacht. Er trägt ein weißes Hemd und wirkt aufgeräumt. Aber selbst der Richter wirft am Ende die Frage auf, wie dieser schmächtige Mann wohl eine derart lange Haftstrafe verkraften wird.