Eine Geige mit Füssener Akzent
Recherche Der Historiker Philipp Blom begibt sich auf die Fährte des Geigenbauers, der vor 300 Jahren sein Instrument herstellte. Die Spur führt ihn erst ins Allgäu, dann nach Venedig
Eine attraktive Erscheinung ist sie. Leuchtet „in einer goldenen Bernsteinfarbe“, ihr Umriss „hat einen schönen Schwung“, die Linienführung zeigt sich „gut ausgewogen“. Italienerin? Ja, sie stammt wohl von dort. Aber, ergänzt der Experte, sie hat „einen deutschen Akzent“.
Die Rede ist von einer Geige. Der Historiker Philipp Blom, in seiner Freizeit ein leidenschaftlicher Violinist, hat sie in Wien gekauft. Ein Meisterstück, im Klang wie in der Fertigung. Doch der Zettel, der im Innern als angebliches Testat des Erbauers klebt, ist eine Fälschung, die Herkunft der Geige also fraglich. Form und Machart legen nahe, dass sie um 1700 in Italien entstand. Dagegen scheinen die ausgestellten Ecken der Zargen, der Schnitt der F-Löcher und die klein ausgeführte Schnecke am Ende des Griffbretts darauf hinzudeuten, dass da jenseits der Alpen wahrscheinlich ein Geigenbauer aus Deutschland der „Akzent“-Geber war. In dem Maße, wie der Klang seines neuen Instruments den Musiker Blom bezauberte, faszinierte den Historiker Blom die offene Frage der Herkunft. Was ihn zur Recherche auf den Spuren des unbekannten Geigenbauers animierte – eine Tour, die am Ende ihren Niederschlag in einem Buch findet: „Eine italienische Reise.“
Eine Geige mit „deutschem Akzent“, das weist vor allem in eine Richtung: nach Füssen. Seit dem Spätmittelalter ist die kleine Stadt im Ostallgäu führend im Lautenbau. Jetzt, Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts, verlegen sich ihre Handwerker mehr und mehr auf die Herstellung von Violinen. Regional- Merkmale bilden sich dabei heraus, die den Fachleuten klare Hinweise zur Provenienz erlauben, und so sagt auch einer der Experten, denen Blom seine Geige zur Begutachtung vorlegt: zweifellos Füssener Einfluss, „das sieht man“. Also tauft Blom den unbekannten Geigenbauer, dessen Fährte er verfolgt, auf den so fiktiven wie deutschen Namen „Hans“.
Irgendwie muss dieser Hans, wie so viele seiner jungen Füssener Zeitgenossen, nach Italien gelangt sein. Da es keine Zeugnisse dieses Mannes gibt, bedient sich Blom einer Hilfsmethode, um den historischen Hintergrund auszuleuchten. Reihenweise zieht er erhalten gebliebene Berichte von Zeitzeugen heran, sei es über die elende Situation der vom Krieg gezeichneten Stadt Füssen, sei es über die Gefahren der Alpenüberquerung in einer Zeit, als lediglich holprige Pfade übers Gebirge führten. Beim Ausbreiten dieser Schilderungen geht mit dem Autor gelegentlich der Historiker durch, gerät Blom etwas weit neben die Spur seiner eigentlichen Absicht, die Herkunft der Geige zu erhellen.
Näher am zentralen Thema sind die Einblicke in den heutzutage heißgelaufenen Markt für historische Instrumente. Ein von wenigen Akteuren bespielter Umschlagplatz, auf dem sich die Experten gegenseitig die Kompetenz absprechen und die Zuschreibungen, die beim Verkauf den großen Profit versprechen, oft auf tönernen Beinen stehen. Auch Blom gibt mehrere dendrotypische chronologische Gutachten in Auftrag, mittels derer das Alter des Geigenholzes bestimmt wird, um Genaueres über Zeit und Ort der Herstellung zu erfahren.
Die zusammengetragenen Indizien über den Weg seines fiktiven Geigenbauers führen Blom zuletzt nach Venedig. Eine Stadt, die in enger Handelsbeziehung mit Füssen stand, gerade, was das Geschäft mit Instrumenten betraf. Mehrfach sind in der Lagunenstadt Instrumentenbauer mit Füssener Abstammung belegt, oft im Bubenalter als Gesellen gekommen. Bloms Violine, bekräftigt ein um Rat gebetener Kenner des venezianischen Geigenbaus, könnte aus der Werkstatt des berühmten Matteo Goffriller stammen, der zwar selbst nicht aus Füssen, sondern aus Brixen zugewandert war, mit dem Allgäu aber in mehrfacher Beziehung stand.
Da er eine Großwerkstatt betrieb, könnte dort auch ein Füssener gewirkt haben und somit Urheber von Bloms Geige gewesen sein. Ein Geigenbauer aus der zweiten Reihe, der gleichwohl Erstrangiges schuf – mehr, muss Blom erkennen, lässt sich über Hans nicht in Erfahrung bringen. Und so resümiert er am Ende seines Buches ein wenig resigniert: „Es könnte alles auch ganz anders gewesen sein“. Mag sein. Doch dafür erhellt Philipp Blom mit seiner „Italienischen Reise“ebenso lebendig wie informativ, unter welchen Bedingungen vor 300 Jahren Geigen entstanden, die noch heute in Bann schlagen durch ihre handwerkliche Meisterschaft und die Schönheit ihres Klangs.
Philipp Blom: Eine italienische Reise.