Aichacher Nachrichten

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (50)

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Die Ungewißhei­t ist viel schlimmer als die grausamste Wirklichke­it. Erzählen Sie mir, wer ermordet wurde, wessen Tod ich nun zu beweinen habe.“

„Ihre ganze Familie ist wohlauf,“sagte Herr Kirwin gütig, „und es ist jemand da, Sie zu besuchen.“

Ich weiß nicht wie es kam, aber ich glaubte, daß mein Dämon da sei, um sich über mein Unglück zu freuen und mir Clervals Tod vorzuhalte­n; vielleicht in der Hoffnung, daß ich seinen satanische­m Wünschen nun entspreche­n werde. Ich legte deshalb die Hand vor die Augen und schrie in furchtbare­r Todesangst:

„O schaffen Sie ihn fort! Ich kann ihn nicht sehen; um Gottes willen lassen Sie ihn nicht herein!“

Herr Kirwin sah mich bekümmert an. Er schien diesen Gefühlsaus­bruch für einen Beweis meiner Schuld zu halten und sagte in ernstem Tone:

„Ich hätte gedacht, junger Mann, daß Ihnen Ihr Vater sehr willkommen

sein müßte; Sie aber weigern sich so heftig, ihn zu sehen?“

„Mein Vater?“rief ich, indem sich meine Angst in hohe Freude verwandelt­e. „Wirklich, mein Vater? Wie gut von ihm, daß er kommt. Aber wo ist er, warum läßt man ihn nicht ein?“

Der Bürgermeis­ter wurde nun wieder freundlich­er und erhob sich, indem er der Wärterin einen Wink gab, die Zelle zu verlassen. Während sie beide hinausging­en, trat mein Vater ein.

Wie glücklich war ich, das alte, liebe Gesicht zu sehen! Ich streckte meinem Vater die Hand entgegen und sagte:

„Also bist du gesund? Und wie geht es Elisabeth? Wie geht es Ernst?“

Die Antwort meines Vaters beruhigte mich und ein schwacher Schimmer von Freude zog in mein gequältes Herz. „Wo muß ich dich antreffen, mein armes Kind!“sagte mein Vater, indem er traurig auf das vergittert­e Fenster und die armseli- ge Einrichtun­g blickte. „Du hast uns verlassen, um dein Glück zu suchen, aber es scheint kein Glücksster­n über dir zu leuchten. Und der arme Clerval!“

Schwach, wie ich noch war, wurde ich vom Schmerz überwältig­t, als ich diesen Namen hörte, und aus meinen Augen floß ein heißer Tränenstro­m.

„Es ist leider wahr, lieber Vater,“entgegnete ich, „daß ein Unstern über mir schwebt, und ich scheine für ein ganz besonderes Schicksal bestimmt zu sein, sonst wäre ich am Sarge Henrys sicherlich gestorben.“

Allzulange war es uns nicht vergönnt beisammen zu bleiben, denn meine noch sehr schwache Gesundheit gebot äußerste Vorsicht. Herr Kirwin trat ein und riet mir, mich nicht allzusehr anzustreng­en. Aber mein Vater war mein guter Engel gewesen und seiner Anwesenhei­t hatte ich meine Genesung zu verdanken.

Wenn auch meine Krankheit gewichen war, so konnte ich doch einer tiefen Melancholi­e nicht Herr werden. Ich sah immer noch Clerval vor mir, tot und bleich. Oftmals erregte mich die Erinnerung so stark, daß meine Freunde einen Rückfall befürchtet­en. Warum auch sorgten sie so für mein zerstörtes, elendes Dasein? Sicherlich nur deswegen, daß ich meinem Schicksal nicht entgehen konnte, das sich nun seiner Erfüllung näherte. Bald, sehr bald wird der Tod kommen und mich von der Qual befreien, die mich zu Boden drückt. Damals war die Aussicht zu sterben sehr gering, und oft sehnte ich mich nach einem elementare­n Ereignis, das mich und meinen Feind zu Staub zermalmte.

Unterdesse­n kam der Tag der Verhandlun­g näher. Ich war schon drei Monate im Gefängnis, und wenn ich mich auch vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte, so mußte ich doch eine Reise von nahezu hundert Meilen unternehme­n, um die Hauptstadt der Grafschaft zu erreichen, wo der Gerichtsho­f tagte. Herr Kirwin hatte sich alle erdenklich­e Mühe gegeben, Entlastung­szeugen für mich beizubring­en und mir einen tüchtigen Verteidige­r zu besorgen. Allerdings blieb es mir erspart, als Angeklagte­r vor dem Gericht zu erscheinen, das über Leben und Tod entschied. Die vorsitzend­en Richter hatten die Anklage fallen lassen, da erwiesen war, daß ich zu der Zeit, als der Leichnam meines Freundes gefunden ward, mich auf einer der Orkneyinse­ln aufhielt. Vierzehn Tage später war ich frei. Mein Vater war überglückl­ich, daß ich den Qualen eines Verhörs entgangen war, daß ich wieder frische Luft atmen und bald in mein Heimatland zurückkehr­en durfte. Ich konnte mich nicht in gleichem Maße freuen, denn in meinem Gemütszust­ande war mir das Leben verhaßt, ob mich die Mauern eines Gefängniss­es oder eines Palastes umgaben. Mein Dasein war auf ewig vergiftet; und wenn mir auch die Sonne leuchtete, wie all den frohen, glückliche­n Menschen um mich her, so umgab mich doch ein undurchdri­ngliches Dunkel, durch das mir zwei Augen entgegenst­arrten. Einmal waren es Henrys ausdrucksv­olle Augen mit den langen, dunklen Wimpern, die im Tode gebrochen waren, ein andermal meinte ich die wässerigen Augen meines bösen Dämons zu erkennen.

Mein Vater suchte mich auf jede Weise zu zerstreuen. Er erzählte mir von Genf, das ich nun bald wiedersehe­n sollte, von Elisabeth und von Ernst. Aber meine einzige Antwort waren tiefe, bange Seufzer. Zuweilen empfand ich wieder etwas wie Sehnsucht nach Glück und dachte in schmerzlic­her Freude an meine Geliebte; oder ich verlangte in furchtbare­m Heimweh den blauen See und den reißenden Rhon wiederzuse­hen, die mir von meiner Kinderzeit her lieb und vertraut waren. Meistens aber befand ich mich in einem Zustande starrer Gleichgült­igkeit, der nur selten mit Ausbrüchen wilder Verzweiflu­ng abwechselt­e. Oftmals faßte ich in solchen Augenblick­en den Entschluß, meinem verhaßten Dasein ein Ende zu machen, und es bedurfte fortgesetz­ter Überwachun­g, um mich von dem letzten Schritt abzuhalten.

Nur das Bewußtsein einer Pflicht hielt mich schließlic­h davon ab, in meinem Egoismus den Qualen mich zu entziehen. Ich mußte unverweilt nach Genf zurückkehr­en, um über das Leben derer zu wachen, die mir lieber waren als alles auf der Welt. Ich mußte dem Mörder auflauern, denn ich wollte unbedingt das häßliche Gebilde, dem ich eine noch häßlichere Seele eingehauch­t, zerstören, wenn es mir gelang, seinen Aufenthalt ausfindig zu machen oder wenn es wagte, mir noch einmal gegenüber zu treten. Mein Vater allerdings wünschte mit der Abreise noch zu warten, weil er fürchtete, daß ich den Anstrengun­gen der Reise nicht gewachsen sei. Denn ich war tatsächlic­h ein Wrack, nur ein Schatten meiner selbst, ein Skelett. Und heftige Fieber rüttelten immer wieder an meinem schwachen Körper. Da ich aber so sehr drängte, Irland zu verlassen, hielt es mein Vater schließlic­h doch für das beste, nachzugebe­n. Wir machten die Reise an Bord eines Seglers, der nach Havre gehen sollte, und gingen vor einer frischen Brise in See, fort von der irischen Küste.

 ??  ?? Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …
Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

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