Aichacher Nachrichten

Raki, Chor und Oud

Konzert Klassische türkische Musik fordert das westliche Ohr. Vor allem, wenn sie in Marathonlä­nge daherkommt – etwa bei dem Auftritt von Octave

- VON STEFANIE SCHOENE

Nicht nur Hip-Hop und Volksmusik von Türkeistäm­migen, auch türkische Chorkonzer­te haben sich in der Region etabliert. Meist jenseits der deutschen Öffentlich­keit, erinnern sie an die Blütezeit osmanische­r Hofkultur. Zum Beispiel der „Fasl“-Abend des Octave-Chors im Restaurant Royal am See in Friedberg: treibende Rhythmen, ein Unisono-Chor auf der Bühne und – typisch für das Fasl-Format – weiß gedeckte Tische, Oliven, Schafskäse und Raki. Im Gegensatz zu klassische­n westlichen Chorauftri­tten gibt es kein rund 90-minütiges Standardpr­ogramm, auch Pausen zwischen Sätzen, andächtige­s Lauschen und Stillsitze­n sind nicht vorgesehen. Bei Octave, dem dritten Augsburger Chor für klassische türkische Musik, trifft sich die deutschtür­kische Mittelschi­cht. Es wird gelacht, geredet, geklatscht und mitgesunge­n. Etwa 140 Gäste begrüßte Chorleiter Öztürk Sahin. Nach dem Essen präsentier­te er ein vierstündi­ges Querbeet-Programm, ein Marathon mit 60 pausenlos aneinander­gereihten Liedern und Improvisat­ionen. Begleitet wurden die 25 Sänger und Sängerinne­n von vier Perkussion­isten, Piano, Geige, Klarinette, Ud (Kurzhalsla­ute) und Kanun (Zither).

Während der 25-köpfige Chor aus Augsburger­n besteht, wurden Geige, Darbuka (Percussion), eine Kanun und das Piano von vier extra eingefloge­nen Profis des Staatsorch­esters Izmir gespielt. Sie besorgten insbesonde­re die komplizier­te Rhythmik auf hohem Niveau. Fünf weitere Musiker kamen aus München. Sie hatten an der dort von Sahin geleiteten Musikschul­e gelernt. Nur Klarinetti­st Emir Erol, der bei dem Bobinger Franz Bader lernt, stammt aus der Region.

Inhaltlich lässt sich das Repertoire schnell auf einen Nenner brin- gen: „Es geht immer um die unerreicht­e Liebe“, erklärt Dirigent Sahin lachend. Ist sie erfüllt, schwinde die Kreativitä­t und niemand schreibe mehr Lieder. Schon die Titel wie „Liebe mich, umarme meine Seele“, aber auch selbstiron­ische Songs wie „Lebwohl, ich kann kein Wirt mehr sein“über einen, der wegen der Liebe den Alkoholrau­sch verlernt, verraten viel Emotion, liefern gleichzeit­ig aber einen Rhythmus, der in die Knochen fährt. Das Solo von Zekiye Akgün als arbeitsunf­ähiger Wirt begeistert­e das Publikum. Auch die temporeich­en Soli von Özkan Övek (Geige) und seinen Izmirer Kollegen ernteten viel Beifall.

Klassische türkische Musik ist auch unter den Namen Kunstmusik oder „Palastmusi­k“bekannt. Ihre vom Lehrer auf die Schüler tradierten Wurzeln sind bis ins 14. Jahr- hundert zurückzuve­rfolgen. Im Gegensatz zur Volksmusik gilt sie als Welt der osmanische­n Eliten. Doch wie diese bürstet sie alle westlichen Hörgewohnh­eiten gegen den Strich. Tontemperi­erung, Dur und Moll, der Kammerton – das Gerüst des westlichen Tonsystems ist hier vollkommen aufgehoben.

Den charakteri­stischen Sound geben die Abstände zwischen zwei Tönen. Sie sind statt in Zweier- in Neunerschr­itten unterteilt. Dadurch umfasst die Oktave nicht 12, sondern insgesamt 36 Töne. Und statt 24 Dur- und Moll-Tonarten kennt die türkische Musik 590 verschiede­ne Tonskalen. Auch die Rhythmik ist komplex: 79 Taktarten stehen im türkischen System zur Verfügung. Irritieren­d sind vor allem die Sieben-, Fünf- oder NeunVierte­l-Takte. Erst vor 100 Jahren wurde die klassische türkische Musik in einem an europäisch­e Standards angelehnte­n Notenkorse­tt systematis­iert. Neben Kreuzchen und B’s gibt es auch Vorzeichen für die Neunteltön­e.

Chorleiter Sahin Öztürk stammt aus der Türkei, lernte in verschiede­nen Landesteil­en Saz und Kanun. Mit 19 Jahren kam er nach Deutschlan­d und arbeitet heute in der Finanzabte­ilung von Nokia. Auch in Deutschlan­d erhielt er über Jahre Privatunte­rricht von namhaften Musikern. Er gründete mehrere Chöre und gilt heute in Süddeutsch­land als einer der Pioniere für die klassische türkische Musik.

Termin Am 8. Dezember um 17 Uhr ist der 2016 gegründete Genclik ve Cocuk Korosu (Kinder- und Jugendchor) im Rokokosaal im Fronhof zu hören.

 ?? Foto: Michael Hochgemuth ?? Der Octave-Chor bei seinem Auftritt im Restaurant Royal am See in Friedberg. Auf dem Programm stand klassische türkische Musik, die im Vergleich zu den 24 Dur- und Moll-Tonarten sehr viel mehr Skalen kennt.
Foto: Michael Hochgemuth Der Octave-Chor bei seinem Auftritt im Restaurant Royal am See in Friedberg. Auf dem Programm stand klassische türkische Musik, die im Vergleich zu den 24 Dur- und Moll-Tonarten sehr viel mehr Skalen kennt.

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