Ist Deutschland bereit für das digitale Klassenzimmer?
Reportage Während die Politik über die Digitalisierung streitet, sind viele Schulen schon weiter und beklagen das lahme Tempo
Neustrelitz Matheunterricht im Carolinum-Gymnasium in Neustrelitz, Raum 304. Lehrer Hans-Herbert Larisch steht mit seinen 65 Jahren kurz vor der Rente. Sorgen, dass seine Schüler nicht mehr eigenständig lernen, hat er nicht. „Ich kann mich noch erinnern, als die Taschenrechner in der DDR in der Schule eingeführt wurde, da hieß es auch, die Kinder können bald nicht mehr rechnen.“Larisch gibt den Schülern eine Aufgabe mit einer mathematischen Kurve: Ein Schüler zeigt auf einem riesigen Flachbildschirm vorne rechts im Raum, was er erarbeitet hat: Je nach Änderung von Zahlen in der Gleichung ändert sich die Form der Kurve. „Das kann man viel leichter nachvollziehen, als wenn das alle erst mal in ihr Heft zeichnen“, sagt Lehrer Larisch.
Nervt es die Schüler nicht, ständig einen Bildschirm vor der Nase zu haben und digital sein zu müssen? Jakob, 17, aus der Matheklasse meint: Nein. „Diese Technik ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken.“Neben dem iPad hat er daheim eine Spielkonsole und ein Smarthome-System, mit dem man beispielsweise die Beleuchtung steuern kann. Doch sind die Schüler von ihren Tablets nicht auch abgelenkt? Internetzugang haben die Geräte während Klassenarbeiten oder Abitur nicht. Im regulären Unterricht in der Regel schon. Dass die Schüler zwischendurch nicht mal auf dem iPad daddeln, kann der Rektor nicht ausschließen. „Wir haben ja früher auch mal Schiffe versenken gespielt, wenn es langweilig war“, sagt Schuldirektor Henry Tesch. Er meint: „Wir müssen die Technik, wenn sie da ist, nutzen und nicht verteufeln.“
Der 56-Jährige Rektor Tesch findet den Digitalpakt für die Schulen überfällig, der derzeit im Föderalismusstreit zwischen Bund und Ländern auf der Kippe steht. Andere Nationen seien schon viel weiter, deshalb müsse es jetzt dringend losgehen. „Dann könnte es Deutschland schaffen, hinten am Zug noch mit dem letzten Wagen anzudocken.“Tesch ist überzeugt. Er hat seine Schule in jahrelangem Engagement und gegen reichlich Widerstände, wie er erzählt, mit digitalisiert. Ein Streitpunkt beim Aufbau des digitalen Lernsystems: die Tablets – und wer diese bezahlt. Am Carolinum bringen die Schüler diese selbst mit, Kindern aus sozial schwächeren Elternhäusern finanziert das Tablet der Landkreis.
Direktor Tesch kennt den Bildungsbetrieb seit Jahrzehnten, er war von 2006 bis 2011 selbst Schulminister von Mecklenburg-Vorpommern. Während der friedlichen Revolution hat er in Leipzig studiert, war bei den Montagsdemos teils auch dabei. 1990 fing er als Lehrer an. Zwischenzeitlich war der CDU-Politiker Präsident der Kultusministerkonferenz. Dann kehrte er nach Neustrelitz zurück.
Manche Lehrer in Neustrelitz basteln die Programme selbst zusammen. Doch auch Schulbuchverlage bemühen sich, passende Angebote zu machen. Das Carolinum nutzt ebenso wie 66 andere Schulen in Deutschland die Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts. Dank des vom Bundesbildungsministerium unterstützten Projekts können Schüler und Lehrer quasi von überall arbeiten. Alles was es braucht sind Tablets und ein Browser.
Die Digitalisierung in der Bildung ist nicht unumstritten. „Nachdenken first“, sagt Wolfgang Schimpf, Chef der niedersächsischen Direktorenvereinigung. Er wünsche sich „keine Verweigerung, aber auch keine unkritische Übernahme“, sondern eine „Digitalisierung mit Augenmaß“. Lehrkräfte würden sich künftig häufiger als Moderatoren verstehen. „Doch dürfen sie dabei nicht vergessen, dass wir sie vor allem als Helfer für die Persönlichkeitsentwicklung brauchen“, sagt er. Das anspruchsvolle Gespräch über die Faustlektüre in der Oberstufe aber kann der beste Computer nicht ersetzen.“
Inzwischen kommen auch Lehrer anderer Schulen zur Weiterbildung ans Carolinum nach Neustrelitz. Ihnen rät Rektor Tesch zu Mut und Tempo: „Fangt einfach an, denn die Digitalisierung ist morgen nicht zu Ende.“
Jenny Tobien, Basil Wegener, dpa