Als Zuhälter noch Gerhard und Horst hießen
Verbrechen Der Prozess um den Mord an der Prostituierten Angelika Baron ist auch eine Zeitreise. Mehrere Frauen erzählen vor Gericht, welche Gesetze damals im Augsburger Rotlichtmilieu galten – und dass das Mordopfer Angst hatte
Es war eine Zeit, in der die Frauen auf dem Straßenstrich in Augsburg sich noch Babsi, Tina, Steffi nannten – oder eben „Anschi“. So wie die Prostituierte Angelika Baron, die im September 1993 ermordet worden ist. Die Zuhälter, die kräftig mitkassierten, hießen damals noch Gerhard oder Horst. Das Rotlichtmilieu war, so kann man es sagen, noch in Augsburger Hand. Heute, 25 Jahre später, ist das ganz anders. Nach Angaben der Kripo kommen inzwischen mehr als 90 Prozent der Prostituierten aus dem Ausland. Viele sprechen nur schlecht Deutsch. Von der Stadt, in der sie arbeiten, sehen sie nicht viel mehr als das Bordell.
Der Prozess um den Mord an Angelika Baron, 36, der seit voriger Woche am Augsburger Landgericht läuft, ist deshalb auch eine Zeitreise. Es ist eine Reise zurück in ein Milieu, das es heute so nicht mehr gibt. Ob es für die Frauen in dieser Zeit angenehmer war, als Dirne, wie sie genannt wurden, zu arbeiten? So viel ist sicher: Ein angenehmer Job war es auch seinerzeit nicht.
Mehrere Frauen, die damals so wie Angelika Baron auf dem Straßenstrich gearbeitet haben, wirken vom Leben gezeichnet. Eine ExProstituierte, heute Mitte 50, sagt vor Gericht: „Jeder Freier nimmt dir ein Stück deiner Seele weg.“Sie erzählt, dass sie von einem Freier einmal so heftig gewürgt wurde, dass sie bewusstlos war. Sie erzählt von dem Zuhälter, mit dem sie damals liiert war. Er habe sie ständig kontrolliert, er bekam die Hälfte ihrer Einnahmen. Vom Rest finanzierte sie den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind. Sie erzählt: „Ich habe das streng getrennt. Tagsüber war ich Hausfrau und Mama. Und nur nachts war ich Prostituierte.“
Eine andere ehemalige Prostituierte sagt, sie sei damals alkoholund drogensüchtig gewesen. Ihre Erinnerungen an damals fühlten sich heute an wie ein Schwamm. Sie habe lange Zeit eine Therapie machen müssen, um alle Erlebnisse zu verarbeiten. Lust am Sex mit Freiern spürte sie nicht. Im Gegenteil: Die Frau sagt: „Mich hat es so geekelt vor dem Sperma.“Es ging nur darum, Geld zu verdienen. Sie habe das damals freiwillig gemacht, um die Familie mit zu ernähren. An die ermordete „Anschi“kann sich die ehemalige Kollegin noch gut erinnern: „Sie war ein ganz liebes Mädchen. Ein Vorsichtige, sie ist nicht bei jedem eingestiegen.“
Dass Angelika Baron eher ängstlich war, erzählen am Mittwoch mehrere Ex-Prostituierte als Zeuginnen vor Gericht. Auch ein heute 61-jähriger Taxifahrer, der mit ihr befreundet war, weiß das noch. Er fuhr „Anschi“oft abends mit dem Taxi zu ihrem Standplatz an der Abfahrt der Bürgermeister-Ackermann-Straße zur Hessenbachstraße. Nach Mitternacht ließ sie sich von ihm auch regelmäßig wieder heimbringen. „Sie hat oft gesagt, hoffentlich geht alles gut heute.“Sie sei häufig nervös gewesen, habe verunsichert gewirkt. Einen konkreten Grund für ihr Ängste habe er aber nicht gekannt, so der Taxifahrer.
Vielleicht habe sich Anschi ja Sorgen gemacht, dass sie ihren Standplatz nicht behalten kann. Die Plätze auf dem Straßenstrich seien damals umkämpft gewesen, erzählt der 61-Jährige. Die Zuhälter hätten untereinander ausgemacht, welche Frau wo auf die Freier warten darf. „Anschi“saß stets in einem Auto, eine rote Lampe signalisierte den Freiern, dass sie da ist. Wurde sie mit einem Mann einig über den Preis, dann stieg sie zu ihm in den Wagen. Ganz in der Nähe, auf dem schmalen Zufahrtsweg zum Sportgelände des TSV Pfersee, wurde dann der Geschlechtsverkehr vollzogen. „Stichplatz“nannte man im Milieu diese Orte. Es passierte immer im Auto des Freiers, auf dem Beifahrersitz. 70 Mark war der Standardtarif für zehn Minuten Sex. Mehr als heute. Wer länger wollte, musste drauflegen. Der Taxifahrer, dessen Ehefrau damals ebenfalls auf den Strich ging, geht davon aus, dass „Anschi“damals 10000 bis 15000 Mark im Monat eingenommen hat. „Sie war so fleißig“, sagt er, „sie war fast jeden Tag bei der Arbeit.“Es gab einige Stammkunden. Sonst beschränkten die meisten Prostituierten den Kontakt zu den Freiern aufs Nötigste. Eine Zeugin erzählt: „Ich habe mir die Gesichter nicht angeschaut. Die meisten hätte ich schon eine halbe Stunde später nicht mehr erkannt.“
Stefan E., heute 50, nahm Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre häufiger Dienste der Frauen auf dem Straßenstrich in Anspruch. Dass er in der Tatnacht Kontakt zu Angelika Baron hatte, scheint sicher zu sein. Seine DNA, darunter auch Spermaspuren, wurde an der Leiche der Frau gefunden. Doch war er ihr letzter Freier an diesem Tag und hat er, wovon Kripo und Staatsanwaltschaft überzeugt sind, Angelika Baron ermordet? Es gibt mehrere Indizien, die gegen ihn sprechen. Darunter ein Möbelfuß, der am Fundort der Leiche an einem Bahndamm bei Gessertshausen lag. Mit dem Holzteil wurde „Anschi“geschlagen und offenbar vergewaltigt. Ein Zeuge will sich sicher sein, dass Stefan E. zu der Zeit einen solchen Möbelfuß in seinem Auto hatte.
Dieser Zeuge hat noch nicht ausgesagt, von seiner Glaubwürdigkeit
„Jeder Freier nimmt dir ein Stück deiner Seele.“
Alleine mit DNA-Spuren wird es eng für ein Urteil
wird viel abhängen in diesem Verfahren. Denn alleine die DNA-Spuren sind eine dünne Basis für ein Mordurteil. Es wurden nämlich auch weitere DNA-Spuren zweier Männer gesichert, die bis heute nicht identifiziert werden konnten. In einem Fall soll es sich bei den DNA-Spuren um Sperma handeln, das in der Vagina der Ermordeten gesichert wurde. Ein Gutachter vertrat damals die Ansicht, dass dieses Sperma wohl vom Täter stamme. Zumal „Anschi“bei den Kontakten mit ihren Freiern offenbar immer ein Kondom benutzt hat. Eine ExKollegin erzählt: „Wir haben öfter darüber geredet und gesagt, wir machen es niemals ohne Kondom. Es war ja die Zeit, in der die Angst vor Aids so richtig aufkam.“
Der Mordfall ist durch den Prozess 25 Jahre nach der Tat wieder ganz aktuell. Der Straßenstrich in Augsburg dagegen ist Vergangenheit. Nachdem sich Beschwerden von Anwohnern in den betroffenen Straßen häuften und es Revierkämpfe unter ausländischen Zuhälterbanden gab, entschied sich die Politik für ein Verbot. Seit dem Jahr 2013 sind die Prostituierten von den Straßen verschwunden. Käuflichen Sex gibt es seither nur noch in Bordellen oder Bordellwohnungen.