Pathos und Poltereien
Analyse Donald Trump ruft in seiner Rede zum Zustand der Nation zur Aussöhnung auf. Doch dann droht er den Demokraten. Eine klare Linie ließ der US-Präsident vermissen
Washington Die Talkshowgäste bei den großen amerikanischen Nachrichtensendern suchten noch nach dem roten Faden in der zweitlängsten Präsidenten-Ansprache der amerikanischen Geschichte, als Alexandria Ocasio-Cortez, die junge demokratische Abgeordnete aus New York, schon entschieden den Daumen senkte: „Seine Worte sind nichts als leere Plattitüden, kindische Empörung und Verachtung für alle Werte, die diese Nation groß gemacht haben“, wetterte sie.
Der Verriss der linken Aktivistin dürfte Donald Trump nicht sehr getroffen haben. Immerhin hatte er in seiner anderthalbstündigen Rede zur Lage der Nation kämpferisch ausgerufen: „Amerika wird nie ein sozialistisches Land sein!“, was Ocasio-Cortez als unfreundliche Grußadresse verstehen konnte. Mehr Sorgen muss dem Präsidenten die Reaktion der erzkonservativen Kolumnistin Ann Coulter machen, die sich als Sprachrohr der Trump-Basis versteht. „Das war die lahmste, rührseligste State-of-the-UnionRede aller Zeiten. Feuern Sie Ihren Redenschreiber, Herr Präsident!“, forderte sie auf Twitter.
Tatsächlich hatte Trump vor den beiden Kammern des Kongresses einen merkwürdigen Vortrag vom Teleprompter abgelesen. In teilweise monotonem Ton warb der Präsident für überparteiliche Zusammenarbeit. „Die Agenda, die ich Ihnen heute Abend ausbreite, ist die Agenda des amerikanischen Volkes“, behauptete er. Doch der Eindruck wurde an vielen Stellen von falschem Pathos, spalterischen Einschüben und unwahren Behauptungen konterkariert. „Ein disharmonischer Aufruf zur Einheit“, titelte die Washington Post am Mittwoch.
Die Regierungserklärung, der „State of the Union“, ist eine mit viel Pomp überladene jährliche Inszenierung mit Ehrengästen, die das amerikanische Volk symbolisieren sollen – und Parteifreunden, die nach jedem zweiten Satz begeistert klatschend von den Sitzen springen. Trump befand sich in einer ungewohnten Situation, als er am Dienstagabend den holzgetäfelten Kongress-Saal betrat. Erstmals in seiner Amtszeit wurde die Sitzung von einer demokratischen Politikerin geleitet, die die neue Mehrheit im Repräsentantenhaus vertritt: Nancy Pelosi. Die Parlamentschefin war es auch gewesen, die wegen des Haushaltsstreits eine Verschiebung der Rede erzwungen hatte.
Trump grüßte Pelosi knapp, verkniff sich aber eine Gratulation. „Ich bin bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten“, rief er den Demokraten zu. Er erwähnte kurz sein seit zwei Jahren versprochenes milliardenschweres Infrastrukturpaket, das man gemeinsam beschließen könne. Doch dann fiel der Präsident mit einer Litanei seiner Erfolge in den üblichen Duktus zurück, bevor er das Repräsentantenhaus kaum versteckt warnte, die „lächerliche parteiische Untersuchung“seiner Russland-Verwicklungen einzustellen: „Wenn es Frieden und Gesetzgebung geben soll, kann es nicht Krieg und Ermittlungen geben. So läuft das einfach nicht“, sagte er.
„Der Präsident drohte dem Kongress der Vereinigten Staaten, um ihn von seinen verfassungsrechtlichen Aufsichtspflichten abzuhalten“, empörte sich Pelosi später. Auch andere Passagen der TrumpRede klangen wenig versöhnlich. So warf er den Demokraten im Streit
„Wenn es Frieden und Gesetzgebung geben soll, kann es nicht Krieg und Ermittlungen geben.“
US-Präsident Donald Trump
über die Legalisierung von Spätabtreibungen die „Hinrichtung“von Babys vor, forderte von ihnen „Verzicht auf Vergeltung“gegen seine Person, erwähnte den wachsenden weißen Rassismus und die alltägliche Waffengewalt mit keinem Wort und dämonisierte stattdessen den „gewaltigen Ansturm“von Flüchtlingen als „Bedrohung der Sicherheit“aller Amerikaner.
Allerdings verzichtete Trump in seiner Rede darauf, den nationalen Notstand auszurufen und die Mauer an der Grenze zu Mexiko so ohne Zustimmung des Kongresses durchzupeitschen. Offenbar gibt es derzeit massive Widerstände in der republikanischen Partei gegen dieses verfassungsrechtlich heikle Manöver. Doch mit 20 Minuten widmete Trump der Mauer so viel Zeit wie keinem anderen Thema. Er betonte zwar, die Grenzanlage müsse nicht aus Beton, sondern könne auch aus Stahlstangen gebaut werden, was wie ein Entgegenkommen an die Demokraten klingt. Doch machte er keine Angebote zur Einbürgerung von Migranten, die schon als Kinder ohne Papiere ins Land kamen. Ohne ein massives Entgegenkommen beim Einwanderungsrecht scheint eine Zustimmung der Opposition aber ausgeschlossen. So blieb Trumps Kompromissaufruf ohne Substanz. Kämpferisch klang gleichwohl sein Versprechen: „Ich werde die Mauer bauen!“