„Sie sind gebrettert wie ein Irrer“
Prozess Ein junger Mann hat sich mit der Polizei eine wilde Verfolgungsjagd geliefert – über 100 Kilometer auf der A8. Der Entzug des Führerscheins ist ein Teil der Strafe. Nur die Sache mit dem Bilderrahmen bleibt ungeklärt
Augsburg Der Richter fühlte sich an eine Vorlage für die Autobahn-Polizeiserie „Alarm für Cobra 11“erinnert, die Staatsanwältin nannte den Angeklagten „außer Rand und Band“und selbst der Verteidiger hatte noch nie solch eine „absolute Dummheit“erlebt. Das Jugendschöffengericht des Augsburger Amtsgerichts hat einen 20-Jährigen verurteilt, der sich eine einstündige, über 100 Kilometer lange Mega-Raserei mit der Polizei geliefert hatte. Zwar wurde die zehnmonatige Jugendstrafe für den Auszubildenden zur Bewährung ausgesetzt, seinen eingezogenen Führerschein darf der Königsbrunner aber frühestens in zwei Jahren neu beantragen.
Alles begann, als der Angeklagte in seinem BMW, begleitet von der Freundin, am 1. Juni 2018 gegen 0.15 Uhr an der A-8-Anschlussstelle Augsburg-West unterwegs war. Auf der rechten Spur war er mit nur 40 gefahren – mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Ein Lastwagenfahrer überholte, um gleich darauf wieder vom Angeklagten überholt und ausgebremst zu werden. Nach zwei weiteren solcher Manöver blieb der ratlose LkwFahrer auf dem Standstreifen stehen und rief die Polizei. Rückwärts fuhr der BMW bis auf Zentimeterabstand an den Brummi heran, aus dem Dachfenster zeigte der Angeklagte einen leeren Holzbilderrahmen. Mit dem Erscheinen der Autobahnpolizei aber entdeckte der 20-Jährige seinen Gasfuß: Mit bis zu Tempo 200 ging die Flucht Richtung Stuttgart. Er überholte Autos auf allen Fahrspuren, auch auf dem Standstreifen – wie es gerade passte. Einem Anhalteversuch der in Günzburg hinzugekommenen Autobahnpolizei begegnete der Auszubildende mit dem Versuch, den Streifenwagen zu rammen, was die Polizisten per Vollbremsung verhindern konnten. Statt des Bilderrahmens bekamen die Beamten vom BMWFahrer den Stinkefinger aus dem Dachfenster gezeigt. Während die bayerische Polizei die Verfolgungsfahrt wegen des großen Gefahrenpotenzials abbrach, setzte sich bei Merklingen die württembergische Polizei hinter den nächtlichen Raser. Der setzte seine Fahrweise auch auf der Landstraße fort. Durch Gruibingen fuhr er mit 160 Stundenkilometern – statt 50. Schließlich endete die Fahrt um genau 1.39 Uhr bei Gammelshausen im Landkreis Göppingen – mit Blechschaden an einer Leitplanke. Verletzt wurde zum Glück niemand.
Auch für Richter Bernhard Kugler, seit über 30 Jahren in Strafsachen tätig, war diese „Tour“bisher einmalig – und so wollte er vom geTempo ständigen Angeklagten wissen, was ihn denn dazu bewegt habe. Der hatte eine Erklärung parat, die im Verfahren bis dato keine Rolle gespielt hatte: Er habe unter Amphetamin gestanden, eingenommen als Partydroge. Nur so könne er sich diese Tour erklären – nicht aber die Sache mit dem Bilderrahmen. Ihm tue leid, was er getan habe, so der Auszubildende. Er leide unter der Vorstellung, dass er andere hätte verletzen, gar töten können. Durch seinen Verteidiger legte der junge Mann einen Nachweis vor, dass er seit geraumer Zeit zur Beratung zur Drogenhilfe Schwaben gehe.
Einen Hang zu unerlaubten Fahrweisen aber zeigte der Blick ins Fahreignungsregister. Schon vor der wilden Verfolgungsjagd – im Juni war er 19 Jahre alt – war er bereits drei Mal aufgefallen. So hatte er eine Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um über 70 Stundenkilometer mit 950 Euro Bußgeld und zwei Flensburg-Punkten bezahlt.
Nicht nur, aber auch wegen seines Verhaltens als Autofahrer attestierte ein Jugendgerichtshelfer dem 20-Jährigen „Reifeverzögerungen“. Staatsanwältin Saskia Eberle forderte für die „vogelwilde Fahrt“eine Jugendstrafe von zehn Monaten Haft auf Bewährung. Verteidiger Klaus Rödl regte an, eine Jugendstrafentscheidung auszusetzen, also seinen Mandanten erst im Falle einer erfolglosen vierjährigen Bewährungszeit zu verurteilen.
Das Schöffengericht von Richter Kugler („Sie sind gebrettert wie ein Irrer“) verurteilte den Angeklagten wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und Sachbeschädigung zu einer Einheitsjugendstrafe von zehn Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Der Verurteilte bekommt einen Bewährungshelfer zur Seite gestellt. Ein drogenfreies Leben muss er durch Urinproben nachweisen und er muss 80 Stunden gemeinnützige Hilfsdienste leisten. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
Nach eineinhalb Stunden endet die Raserei an einer Leitplanke