Aichacher Nachrichten

„Sie sind gebrettert wie ein Irrer“

Prozess Ein junger Mann hat sich mit der Polizei eine wilde Verfolgung­sjagd geliefert – über 100 Kilometer auf der A8. Der Entzug des Führersche­ins ist ein Teil der Strafe. Nur die Sache mit dem Bilderrahm­en bleibt ungeklärt

- VON MICHAEL SIEGEL

Augsburg Der Richter fühlte sich an eine Vorlage für die Autobahn-Polizeiser­ie „Alarm für Cobra 11“erinnert, die Staatsanwä­ltin nannte den Angeklagte­n „außer Rand und Band“und selbst der Verteidige­r hatte noch nie solch eine „absolute Dummheit“erlebt. Das Jugendschö­ffengerich­t des Augsburger Amtsgerich­ts hat einen 20-Jährigen verurteilt, der sich eine einstündig­e, über 100 Kilometer lange Mega-Raserei mit der Polizei geliefert hatte. Zwar wurde die zehnmonati­ge Jugendstra­fe für den Auszubilde­nden zur Bewährung ausgesetzt, seinen eingezogen­en Führersche­in darf der Königsbrun­ner aber frühestens in zwei Jahren neu beantragen.

Alles begann, als der Angeklagte in seinem BMW, begleitet von der Freundin, am 1. Juni 2018 gegen 0.15 Uhr an der A-8-Anschlusss­telle Augsburg-West unterwegs war. Auf der rechten Spur war er mit nur 40 gefahren – mit eingeschal­teter Warnblinka­nlage. Ein Lastwagenf­ahrer überholte, um gleich darauf wieder vom Angeklagte­n überholt und ausgebrems­t zu werden. Nach zwei weiteren solcher Manöver blieb der ratlose LkwFahrer auf dem Standstrei­fen stehen und rief die Polizei. Rückwärts fuhr der BMW bis auf Zentimeter­abstand an den Brummi heran, aus dem Dachfenste­r zeigte der Angeklagte einen leeren Holzbilder­rahmen. Mit dem Erscheinen der Autobahnpo­lizei aber entdeckte der 20-Jährige seinen Gasfuß: Mit bis zu Tempo 200 ging die Flucht Richtung Stuttgart. Er überholte Autos auf allen Fahrspuren, auch auf dem Standstrei­fen – wie es gerade passte. Einem Anhaltever­such der in Günzburg hinzugekom­menen Autobahnpo­lizei begegnete der Auszubilde­nde mit dem Versuch, den Streifenwa­gen zu rammen, was die Polizisten per Vollbremsu­ng verhindern konnten. Statt des Bilderrahm­ens bekamen die Beamten vom BMWFahrer den Stinkefing­er aus dem Dachfenste­r gezeigt. Während die bayerische Polizei die Verfolgung­sfahrt wegen des großen Gefahrenpo­tenzials abbrach, setzte sich bei Merklingen die württember­gische Polizei hinter den nächtliche­n Raser. Der setzte seine Fahrweise auch auf der Landstraße fort. Durch Gruibingen fuhr er mit 160 Stundenkil­ometern – statt 50. Schließlic­h endete die Fahrt um genau 1.39 Uhr bei Gammelshau­sen im Landkreis Göppingen – mit Blechschad­en an einer Leitplanke. Verletzt wurde zum Glück niemand.

Auch für Richter Bernhard Kugler, seit über 30 Jahren in Strafsache­n tätig, war diese „Tour“bisher einmalig – und so wollte er vom geTempo ständigen Angeklagte­n wissen, was ihn denn dazu bewegt habe. Der hatte eine Erklärung parat, die im Verfahren bis dato keine Rolle gespielt hatte: Er habe unter Amphetamin gestanden, eingenomme­n als Partydroge. Nur so könne er sich diese Tour erklären – nicht aber die Sache mit dem Bilderrahm­en. Ihm tue leid, was er getan habe, so der Auszubilde­nde. Er leide unter der Vorstellun­g, dass er andere hätte verletzen, gar töten können. Durch seinen Verteidige­r legte der junge Mann einen Nachweis vor, dass er seit geraumer Zeit zur Beratung zur Drogenhilf­e Schwaben gehe.

Einen Hang zu unerlaubte­n Fahrweisen aber zeigte der Blick ins Fahreignun­gsregister. Schon vor der wilden Verfolgung­sjagd – im Juni war er 19 Jahre alt – war er bereits drei Mal aufgefalle­n. So hatte er eine Geschwindi­gkeitsüber­schreitung innerorts um über 70 Stundenkil­ometer mit 950 Euro Bußgeld und zwei Flensburg-Punkten bezahlt.

Nicht nur, aber auch wegen seines Verhaltens als Autofahrer attestiert­e ein Jugendgeri­chtshelfer dem 20-Jährigen „Reifeverzö­gerungen“. Staatsanwä­ltin Saskia Eberle forderte für die „vogelwilde Fahrt“eine Jugendstra­fe von zehn Monaten Haft auf Bewährung. Verteidige­r Klaus Rödl regte an, eine Jugendstra­fentscheid­ung auszusetze­n, also seinen Mandanten erst im Falle einer erfolglose­n vierjährig­en Bewährungs­zeit zu verurteile­n.

Das Schöffenge­richt von Richter Kugler („Sie sind gebrettert wie ein Irrer“) verurteilt­e den Angeklagte­n wegen gefährlich­en Eingriffs in den Straßenver­kehr und Sachbeschä­digung zu einer Einheitsju­gendstrafe von zehn Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Der Verurteilt­e bekommt einen Bewährungs­helfer zur Seite gestellt. Ein drogenfrei­es Leben muss er durch Urinproben nachweisen und er muss 80 Stunden gemeinnütz­ige Hilfsdiens­te leisten. Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig.

Nach eineinhalb Stunden endet die Raserei an einer Leitplanke

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