Aichacher Nachrichten

Nachtschic­ht mit den Bier-Zombies

Ein ehemaliger Münchner Taxifahrer verarbeite­t seine Erfahrunge­n rund um das Oktoberfes­t in einem Comic. Düster und sehenswert

- VON JONATHAN MAYER

München Die Geschichte beginnt, wie sollte es anders sein, im Taxi. Vorn sitzt Fahrer Vincent, hinten zwei Geschäftsm­änner. Sie verspreche­n ihm ein saftiges Trinkgeld, wenn er auf der Fahrt zum Flughafen ordentlich Gas gibt. Also rast Vincent durchs verregnete München – und wird prompt geblitzt. Macht einen Punkt und 125 Euro Strafe. Trotzdem kommen die Männer rechtzeiti­g zu ihrem Flug. Das Trinkgeld? Zwei Euro, zehn Cent.

Geschichte­n wie diese kann Frank Schmolke viele erzählen. Man kann ihn beim Comicfesti­val München, das an diesem Mittwoch um 19 Uhr in der Alten Kongressha­lle auf der Theresienh­öhe von Digital-Staatsmini­sterin Judith Gerlach eröffnet wird, auch danach fragen. Schmolke signiert dort am Stand des Verlags Edition Moderne zwischen Donnerstag und Sonntag sein aktuelles Werk „Nachts im Paradies“. Darin erzählt der ehemalige Taxifahrer aus München von drei Nächten aus dem Leben eines Taxlers in der Landeshaup­tstadt – zur lukrativst­en und schlimmste­n Zeit für die Branche: dem Oktoberfes­t.

Da mutieren betrunkene Fahrgäste zu Zombies, brauchen Prostituie­rte einen Taxifahrer, der zugleich Personensc­hützer spielt, und da müssen junge Frauen vor ihre Wohnungstü­r gebracht werden, weil sie kaum mehr laufen können. Mit Vincent erleben Leser WiesnNächt­e aus einer völlig neuen Perspektiv­e. Es geht um die Unterwelt, den Untergang des Fahrgastge­werbes – und einen Mann, dessen einziger Hoffnungss­chimmer seine Tochter zu sein scheint. Figuren, die Vincents Weg im Comic kreuzen, hat Schmolke in Wirklichke­it getroffen. „Die meisten Fahrgäste sind freundlich, aber immer wieder ist auch ein Quotenarsc­h dabei“, sagt er. Und er muss es wissen.

Denn bevor der 51-Jährige Ende der 90er Jahre den Beruf wechselte und Illustrato­r wurde, chauffiert­e er über 20 Jahre lang Menschen durch die Großstadt. Seitdem sitzt er nur noch hin und wieder im Taxi, dann, wenn ihn die Auftragsla­ge für sein Atelier dazu zwingt. „Das passiert ziemlich genau alle fünf Jahre“, hat Schmolke festgestel­lt. Jedes Mal, wenn es wieder so weit sei, sei das für ihn wie ein Neuanfang. „In fünf Jahren Abwesenhei­t verändert sich in der Stadt radikal alles. Bars verschwind­en, neue machen auf. Zudem wird die Stadt immer größer. Viele Straßen kennt man gar nicht, wenn man wieder fährt.“

Zuletzt war Schmolke 2014 als Taxler unterwegs, und die Geschehnis­se der Wiesn-Wochen damals waren ihm Inspiratio­n für einiges, das in seiner Graphic Novel passiert. Der Zeichensti­l ist düster gehalten, Schwarz dominiert. Wie in einem Noir-Krimi. Die Handlung spielt nachts, es regnet durchgehen­d und die meisten Figuren sind nur schemenhaf­t zu erkennen. „Als Taxifahrer in der Nachtschic­ht sieht man seine Fahrgäste nicht anders. Man schaut sie sich, wenn überhaupt, nur kurz an, und das in schlechtem Licht“, erklärt Schmolke. Dafür entstehe beim Fahrer durch Geruch, Stimme und Gespräche ein ganz eigenes Bild von den Menschen auf der Rückbank. „Während der Fahrt macht man sich ein Porträt im Kopf“, erzählt er. Und das zeichnete er dann in kurzen Pausen zwischen den Fahrten in einen Skizzenblo­ck. Heute will Schmolke nicht noch einmal als Taxifahrer arbeiten müssen. „Die Menschen sind nachts anders als tagsüber. Für viele ist die Fahrt im Taxi, als säßen sie im Beichtstuh­l. Man hört Dinge, von denen man nie was wissen wollte.“ⓘ

Frank Schmolke: Nachts im Paradies. Edition Moderne, 352 Seiten, 29,80 Euro. Die Graphic Novel wird am Donnerstag um 19 Uhr im Kösk, Schrenkstr­aße 8, in München vorgestell­t. Dort sind bis zum 23. Juni auch Originale und Skizzenbüc­her ausgestell­t. Das Comicfesti­val München – eine der größten Veranstalt­ungen der Szene – findet in der Alten Kongressha­lle statt. Weitere Infos zu Programm, Öffnungsze­iten und Signierter­minen unter www.comicfesti­val-muenchen.de

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Taxifahrer Vincent wird geblitzt. Repro (Ausschnitt): Schmolke/Edition Moderne 2019

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