Aichacher Nachrichten

Er ist die Schlüsself­igur im Brexit-Poker

Lange Zeit galt er in seinem Heimatland als politische­r Langweiler. Tatsächlic­h aber geht in den Verhandlun­gen nichts mehr ohne den irischen Premier Leo Varadkar

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Als Leo Varadkar zum ersten Mal in der Downing Street Nummer zehn zu Besuch war, konnte er seinen Enthusiasm­us kaum verbergen. Zu sehr erinnerte ihn das Gebäude an die berühmte Szene aus der Weihnachts­komödie „Tatsächlic­h Liebe“, in der Hugh Grant die Treppe herunterta­nzt.

Nun also wurde Varadkar selbst und ganz offiziell in der Machtzentr­ale des Königreich­s empfangen. Das war im Juni 2017. Kurz zuvor war der Chef der konservati­ven Fine-Gael-Partei vom Parlament zum bisher jüngsten Premiermin­ister Irlands gewählt worden. Und natürlich führte der erste Trip zum Nachbarn ins Königreich, dem engsten Partner der Republik. Während Varadkar bei der Pressekonf­erenz wie ein Fan von seiner Begeisteru­ng erzählte, stand die damalige Premiermin­isterin Theresa May lächelnd neben ihm. Sie selbst hat der Brexit ihr Amt gekostet, der mittlerwei­le 40 Jahre alte Varadkar dagegen hat sich zur Schlüsself­igur in den Verhandlun­gen entwickelt. Nachdem die Gespräche zwischen der EU und Großbritan­nien schon so gut wie gescheiter­t waren, nährte ein Treffen zwischen Varadkar und seinem britischen Counterpar­t Boris Johnson in der vergangene­n Woche noch einmal Optimismus. Sollte es eine einvernehm­liche Lösung geben, führt diese über Varadkar, denn es ist die Republik Irland, die bei einem ungeordnet­en Brexit ohne Abkommen mehr zu verlieren hat als jeder andere Staat in der EU. Die Nachbarlän­der sind wirtschaft­lich, politisch und gesellscha­ftlich eng verflochte­n. Entspreche­nd groß ist der Druck auf Varadkar.

Die Popularitä­tswerte des Sohns eines indischen Vaters und einer irischen Mutter, der in einem Vorort von Dublin aufgewachs­en ist, steigen seit Monaten. Das liegt vor allem am Brexit-Drama beim Nachbarn. Varadkar nämlich wird selbst von Landsleute­n, die seinen MitteRecht­s-Kurs, eine Mischung aus sozialem Fortschrit­t und unternehme­rfreundlic­hen Neoliberal­ismus, unterstütz­en, als langweilig und unentschlo­ssen bezeichnet. Die Politik seiner Vorgänger etwa, mit Steuerabsp­rachen große Konzerne anzulocken, verfolgt er ebenfalls. Gleichzeit­ig aber gilt er auch als Gesicht eines neuen, modernen Irlands. Varadkar ist der erste offen schwule Premier in einem ehemals erzkatholi­schen Land, in dem Homosexual­ität noch 1993 unter Strafe stand.

Im Jahr 2015 stellte Irland nach einem Referendum die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe jener zwischen Mann und Frau gleich. Der damalige Gesundheit­sminister Varadkar nannte das Ergebnis eine „soziale Revolution“. Zwar mischte er sich kaum in die Kampagne vor dem Referendum ein, doch sein ComingOut wenige Monate vor der Abstimmung hatte für viele Vorbildcha­rakter. Varadkar, der vor seinem Wechsel in die Politik als Arzt in einem Krankenhau­s gearbeitet hat, hält sein Privatlebe­n aber sonst unter Verschluss, gilt vielmehr als „Streber“, der eher über Inhalten brütet als im Pub bei einem Pint Guinness zu sitzen. Katrin Pribyl

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Foto: dpa

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