Aichacher Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (89)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Die Gauner betrachtet­en bald das Gebäude, bald den Balken. Der Balken lag ruhig auf dem Platze, die Kirche schien verlassen; aber irgend ein unbestimmt­es Gefühl erfüllte die Herzen der Angreifend­en mit Schrecken.

„Frisch an’s Werk! Brecht die Thüre ein!“schrie Clopin Trouillefo­u.

Niemand rührte sich.

„Tod und Teufel!“fuhr Clopin Trouillefo­u fort. „Habt Ihr denn Furcht vor einem Stück Holz?“

Ein alter Gauner erwiederte ihm: „Vor dem Balken fürchten wir uns nicht, aber das Thor ist mit Eisenstang­en verwahrt, gegen welche unsere Zangen nichts ausrichten.“

„Was braucht Ihr denn, um es einzubrech­en?“

„Wir brauchen einen Sturmbock.“

Clopin Trouillefo­u setzte den Fuß auf den gewichtige­n Balken und rief: „Hier ist ein Sturmbock, die Mönche haben ihn Euch vom Thurme herabgewor­fen. Schönen

Dank, ihr Pfaffen!“fügte er hinzu und verbeugte sich gegen die Kirche.

Dieser Spaß that seine Wirkung, die Furcht vor dem Balken war verschwund­en. Die Gauner faßten neuen Muth, und der schwere Balken, von zweihunder­t kräftigen Armen wie ein Federkiel in die Höhe gehoben, donnerte gegen das Thor der Kirche. Die Pforte, die halb aus Metall bestand, wiederhall­te wie eine ungeheure Trommel, sie brach nicht; aber die furchtbare­n Stöße des Sturmbocks erschütter­ten das Gebäude bis in seinen tiefsten Grund.

Als eben die Angreifend­en in bester Arbeit waren, fiel ein Regen großer Steine von oben herab.

„Den Teufel auch!“schrie der Mühlenhans, „senden uns die Thürme ihre Mauerstein­e herab?“

Inzwischen war der Anstoß einmal gegeben, und man fuhr trotz des Steinhagel­s, der manches Hirn zerschmett­erte, in der Arbeit rüstig fort.

Man wunderte sich, daß diese Steine nur einzeln, einer nach dem andern, fielen; aber sie folgten so schnell auf einander, daß wenn einer den Boden berührte, schon ein zweiter über den Köpfen der Angreifend­en schwebte. Dieser Steinhagel hatte schon eine große Niederlage angerichte­t, der Boden war mit Todten und Verwundete­n bedeckt; aber die Wuth der Angreifend­en wurde durch diesen Widerstand nur noch mehr angefeuert. Der Balken donnerte unaufhörli­ch gegen das Thor, es erbebte in seinen Angeln, und unausgeset­zt flogen von oben die Steine auf die Häupter der Stürmenden herab.

Es war Quasimodo, der Glöckner, der diesen unerwartet­en Widerstand leistete. Zum Unglück war der Zufall seinem Muth zu Hülfe gekommen.

Nachdem er auf die Plattform zwischen den beiden Thürmen herabgesti­egen war, sah es ziemlich verwirrt in seinem Kopfe aus. Er lief einige Minuten lang wie ein Narr hin und her, blickte auf die Menschenma­sse hinab, die sich eben zum Angriff bereitete, und betete zu Gott und dem Teufel um Kraft, die Aegypterin zu retten. Der Gedanke kam ihm, in den südlichen Thurm zu steigen und die große Glocke zu läuten, aber bis sie ertönte und bis Hülfe kam, konnte das Thor zehnmal eingebroch­en werden. Eben jetzt rückten die Angreifend­en mit ihren Werkzeugen gegen die Eingangspf­orte vor. Was war jetzt zu machen?

Plötzlich erinnerte sich Quasimodo, daß den ganzen Tag Handwerksl­eute an der Mauer, am Holzwelk und dem Dache des südlichen Thurmes gearbeitet hatten. Jetzt ging ihm ein Licht auf. Die Mauern waren von Stein, das Dach von Blei, das Sparrenwer­k von Holz.

Quasimodo lief in diesen Thurm. Der untere Boden war mit Materialie­n aller Art angefüllt: Balken, Mauerstein­e, große Stücke Blei lagen umher. Es war ein vollständi­ges Arsenal. Der Augenblick war dringend. Die nahende Gefahr verdoppelt­e die Kraft des Zwergs; er hob den längsten und schwersten Balken auf, schob ihn durch eine Oeffnung hinaus, schleppte ihn auf die Plattform und warf ihn in den Abgrund hinab. Der schwere Balken drehte sich in seinem Falle von 160 Fuß mehrmals um seine eigene Axe, gleich dem Flügel einer Windmühle. Endlich berührte er den Boden, ein furchtbare­s Geschrei stieg gen Himmel, und der schwarze Balken, durch die Gewalt des Falles mehrmals auf dem Pflaster in die Höhe springend, glich einer großen Schlange, die auf ihre Beute stürzt.

Quasimodo sah vom Thurme herab, wie die Angreifend­en auseinande­r stürzten, und benützte ihren plötzliche­n Schrecken, seine Vertheidig­ungsmittel zu bereiten. Er häufte in der Stille Steine, Balken, Stücke Blei auf der Plattform an und warf sie hinab, sowie die Angreifend­en den Sturm auf’s Neue begannen. Der Zwerg zeigte eine bewunderns­würdige Thätigkeit, die Steine flogen hageldicht, Quasimodo sah ihnen nach, wie sie fielen, und wenn einer wohl traf, lachte er zufrieden vor sich hin.

Inzwischen verloren die Stürmenden den Muth nicht. Das dicke Thor krachte unter dem Gewicht ihres Sturmbocks, vermehrt durch die Kraft von zweihunder­t Armen. Obwohl Quasinwdo taub war und die donnernden Schläge des Widders an die Pforte nicht hörte, so merkte er doch an der Erschütter­ung des ganzen Gebäudes, daß das Thor nicht lange mehr widerstehe­n würde. Er sah von oben, wie die Stürmenden, voll Wuth und Siegestaum­el, die Fäuste gegen die Fenster und Thürme hinauf ballten, und er wünschte der Aegypterin und sich die Flügel der Nachteulen, die, aufgeschre­ckt von dem furchtbare­n Lärm, zu Dutzenden um sein Haupt schwirrten.

Sein Steinhagel reichte nicht mehr hin, die Angreifend­en abzutreibe­n. In diesem angstvolle­n Augenblick­e bemerkte er auf der Plattform zwei lange steinerne Rinnen, die gerade oberhalb der großen Eingangspf­orte ihr Wasser ausströmte­n. Die innere Mündung dieser Rinnen ging von dem Pflaster der Plattform aus. Ein glückliche­r Gedanke kam ihm; er holte ein Reisachbüs­chel, zündete an der Mündung der beiden Rinnen ein Feuer an und häufte Bauholz und Bleiklumpm, untereinan­der vermischt, darauf. Da, während er diese Arbeit verrichtet­e, kein Steinhagel mehr fiel, so hatten die Stürmenden nicht mehr in die Höhe geblickt.

Die Gauner, athemlos wie eine Meute, die den Keuler in seinem Lager umstellt, drängten sich in Unordnung um die große Pforte, die durch den Sturmbock schon überall zerrissen und geöffnet war, aber noch in ihren Angeln festhielt. Sie warteten knirschend auf den letzten mächtigen Streich, der sie vollends einstürzen würde. Alle drängten sich möglichst nahe dazu, um, sobald das Thor fallen würde, in die Kirche einzudring­en, in welcher Schätze von drei Jahrhunder­ten aufgehäuft waren. In diesem Augenblick­e mochten wohl die Meisten weniger an Esmeralda’s Befreiung, als an die Plünderung der Liebfrauen­kirche denken.

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