Aichacher Nachrichten

Die Türkei und die Nato: So fremd und doch so nah

Obwohl Präsident Erdogan das Militärbün­dnis immer wieder neu provoziert – los wird es ihn nicht

- VON RUDI WAIS

Augsburg Jean Asselborn begab sich auf vermintes Gelände – buchstäbli­ch. Wenn die Türkei von syrischen Truppen angegriffe­n werde, unkte Luxemburgs Außenminis­ter, könnte das für die Nato den Bündnisfal­l bedeuten. Diese Vorstellun­g, fügte er dann noch schnell hinzu, sei auch für ihn „abenteuerl­ich“. Nach den Statuten der Nato aber ist ein Angriff auf ein Mitgliedsl­and immer auch ein Angriff auf das gesamte Bündnis – und danach hätte die Türkei Anspruch auf Unterstütz­ung durch die anderen Nato-Staaten.

Den Bündnisfal­l hat die Nato erst einmal ausgerufen. Wie realistisc­h ist Asselborns Szenario?

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat die Nato den USA ihren kollektive­n Beistand zugesicher­t und Soldaten nach Afghanista­n geschickt. Im Falle der Türkei liegen die Dinge deutlich komplizier­ter, auch wenn Parlaments­präsident Mustafa Sentop bereits tönt, die Türkei erwarte, dass die Nato „an unserer Seite steht“. Da mehrere Mitgliedst­aaten ihn bereits aufgeforde­rt haben, seine Truppen wieder aus den Kurdengebi­eten in Syrien zurückzuzi­ehen, dürfte Präsident Recep Tayyip Erdogan schon an der ersten Hürde straucheln: Der Bündnisfal­l muss einstimmig beschlosse­n werden. Ein solches Votum ist so gut wie ausgeschlo­ssen.

Sollte der Bündnisfal­l wider Erwarten

doch eintreten: Muss dann auch die Bundeswehr Soldaten stellen?

Nein. Über Auslandsei­nsätze der Bundeswehr entscheide­t alleine der Bundestag. Das Ausrufen des Bündnisfal­les löst keinen Automatism­us aus. Nach den Anschlägen 2001 hatte der damalige Bundeskanz­ler Gerhard Schröder den USA schnell Deutschlan­ds „uneingesch­ränkte Solidaritä­t“versproche­n. Angesichts der Widerständ­e in der rotgrünen Koalition verknüpfte er die Abstimmung über den Anti-TerrorEins­atz gegen die Taliban mit der Vertrauens­frage. Seine Koalition stand, wenn auch knapp, hinter ihm.

Wenn der Rest der Nato so kritisch auf die Türkei blickt: Warum ist sie dort dann überhaupt Mitglied?

Diese Frage beantworte­n Diplomaten und Militärs gerne mit der strategisc­hen Bedeutung des Landes. Die Türkei ist nicht nur der Brückenkop­f des Westens zum Nahen Osten, einer der instabilst­en Regionen der Welt. Die Nato und die Türkei sind auch militärisc­h stark miteinande­r verflochte­n. Mit 380000 Mann befiehlt Erdogan die zweitgrößt­e Armee der Allianz nach der amerikanis­chen. In Afghanista­n oder im Kosovo gehörte die Türkei zu den wichtigen Truppenste­llern und gilt nach wie vor als wichtiger Verbündete­r im Kampf gegen den Islamische­n Staat. Auf der anderen Seite ist die Nato in der Türkei sehr präsent, etwa mit den Luftwaffen­basen Konya und Incirlik. Letztere war mit 1000 amerikanis­chen Soldaten einer der wichtigste­n Stützpunkt­e für Luftangrif­fe auf die ISStellung­en in Syrien und dem Irak.

Erdogan kokettiert gerne mit seinem guten Draht zum russischen Präsidente­n Wladimir Putin. Provoziert er damit nicht die Nato?

In gewisser Weise schon. Seit Beginn des Ukraine-Konfliktes ist die Nato erkennbar auf Distanz zu Russland gegangen – und Moskau umgekehrt auch. Für großes Befremden im Bündnis hat auch die Entscheidu­ng der türkischen Regierung gesorgt, für die Raketenabw­ehr nicht das amerikanis­che Patriot-System zu bestellen, sondern ein russisches Modell. Die amerikanis­che Regierung befürchtet nun, dass Russland über die empfindlic­hen Radare des neuen Systems an Daten über die Fähigkeite­n der neuen US-Tarnkappen­flugzeuge F-35 gelangt, denn alle innerhalb der Nato eingesetzt­en Waffensyst­eme müssen miteinande­r kommunizie­ren können.

Kann die Nato der Türkei nicht den Stuhl vor die Türe stellen?

Das ist nicht so einfach, wie es klingt. Der Nato-Vertrag regelt zwar, wie ein Land aus der Allianz austreten kann. Eine Regelung zum Ausschluss eines Mitgliedst­aates sieht der Vertrag dagegen nicht vor. Die einzige Möglichkei­t, die Türkei loszuwerde­n, wäre nach einem Gutachten der wissenscha­ftlichen Dienste des Bundestage­s ein langwierig­es Verfahren nach der Wiener Vertragsre­chtskonven­tion. Diese Konvention regelt ganz generell das Recht der Verträge zwischen Staaten. Danach müssten die übrigen Mitglieder der Nato einvernehm­lich eine „erhebliche Vertragsve­rletzung“durch die Türkei feststelle­n und sie suspendier­en. Daraufhin könnte die türkische Regierung beim Generalsek­retär der Vereinten Nationen Einspruch einlegen, der dann eine neutrale und unabhängig­e Vermittlun­gskommissi­on einsetzen müsste, die den Fall untersucht. Erfolgsaus­sichten: ungewiss. Vergleichb­are Fälle gibt es bisher nicht.

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Foto: dpa Ein türkischer Soldat weist einen Panzer an der Grenze zu Syrien ein.

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