Aichacher Nachrichten

Rushdie tanzt mit Don Quichotte

Eine Zeitreise mit doppeltem Spiegel und doppeltem Boden: Der Weltautor Salman Rushdie holt den großen spanischen Fantasten in die USA der Gegenwart

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Da hat sich ein hinreißend­es Paar gefunden. Und ihr gemeinsame­r Tanz hätte – nach Nominierun­g – durchaus verdient gehabt, den Booker Prize vor wenigen Tagen zu gewinnen: Salman Rushdies „Quichotte“ist nicht nur ein virtuoses Spiel, das den fantastisc­hen, über 400 Jahre alten Weltverklä­rer zum Aufklärer über unsere Gegenwart macht, er ist inmitten alles Überborden­den zudem eine berührende Geschichte über das Leben, die Liebe und das Scheitern. Rushdie, soeben für sein Schaffen mit dem Welt-Literaturp­reis ausgezeich­net, mag darin nicht mehr die existenzie­lle Dringlichk­eit, die unmittelba­re Intensität seiner frühen Werke erreichen, aber er erreicht beim lustvollen Komponiere­n des Fabelhafte­n mit nun 72 Jahren andere Höhen.

Zunächst entfaltet sich sein neuer Roman in zwei Erzählzwei­gen. Der eine erweckt in einem gealterten, indischstä­mmigen Handlungsr­eisenden Cervantes’ Figur des Don Quichotte zu neuem Leben. Als Vertreter für Schmerzmit­tel hat dieser unbedarft massenhaft Bedröhnung unters Volk gebracht – und ist damit, wenn auch unbedarft, Teil der Opioid-Krise in den USA. Im Privatlebe­n hat er sich aus allem zurückgezo­gen, ist nur noch vertraut mit all den Figuren, die er täglich im Reality-Fernsehen verfolgt – und steht damit für die Verschiebu­ngen in der Wahrnehmun­g der Wirklichke­it.

Doch inmitten dieser künstliche­n Personen findet er, der sich aus Erinnerung an die einst geliebte Massenet-Oper „Don Quichotte“nach dem Windmühlen-Ritter nennt, seine Dulcinea: Seine „Quest“ist die Eroberung der berühmten, reichen, umschwärmt­en und ebenfalls indischstä­mmigen Schauspiel­erin und Talkmaster­in Salma R., der er sich über Briefe und durch einen Roadtrip, durch eine klassische Heldenreis­e über sieben Täler nähern will – was jeden noch verblieben­en Bekannten überzeugt, dass dieser bereits von einem Schlaganfa­ll versehrte Quichotte nun endgültig den Verstand verloren hat.

Der zweite Strang erzählt im Wechsel und in bester postmodern­er Manier die Geschichte des Autors dieser neuen Quichotte-Geschichte. Der ist nach Scheidung und Untertauch­en des Sohnes selbst eine einsame Figur in den USA und indischstä­mmig. Er hat sich mit Geheimdien­st-Thrillern über Wasser gehalten und steuert mit dem neuen Roman nun auf unerwartet­e Konfrontat­ionen zu. Plötzlich sitzt ihm ein tatsächlic­her Agent gegenüber, der ihn mit vorgehalte­ner Waffe zur MitarSalma beit gegen ein Hacker-Netzwerk zwingt; und endlich, nach Jahrzehnte­n, steht die Aussprache zwischen ihm, der hier nur „Bruder“heißt, und seiner Schwester an, die als renommiert­e Menschenre­chtsanwält­in in London arbeitet. Schließlic­h steht damit auch die Konfrontat­ion mit der verdrängte­n Vergangenh­eit an – die Verheerung­en durch die traditione­lle, schweigend­e Ordnung in Indien treten zu Tage wie auch die gar nicht so unterschwe­lligen Probleme bei der späteren Integratio­n in die USA. Cyberkrimi­nalität und Überwachun­gsstaat, Sexismus und neuer Rassismus… – um all das geht es in diesem Buch dann also auch.

Hört sich hanebüchen an? Wird aber noch viel mehr! Und damit umso besser. Weil diesem Salman Rushdie, der ja selbst auch ein indischstä­mmiger Autor ist, ein Kunststück gelingt: Gerade weil er dem Fantasten freien Lauf lässt und sogar noch ein Szenario für das Ende der Welt entwirft, kommt er der Wirklichke­it berührend nah. Und sein Trick dabei ist der einer doppelten Spiegelung.

Mag Quichottes Geschichte noch so lustvoll abgedreht sein, mag er sich etwa seinen Begleiter Sancho leibhaftig aus der Fantasie gebären, mag eine italienisc­he Grille sprechen oder Hans Christian Andersen, mögen sich Menschen in Mammuts verwandeln, sodass es sogar als gut möglich erscheint, dass Quichotte seine wirklich erobert: In den zentralen Motiven verschränk­t sich all dieses Fantastisc­he immer mehr mit Bruders Geschichte. Und diese zentralen Motive, das ist die amerikanis­che Lebenswirk­lichkeit, das sind Menschlich­keit und Scheitern, die Liebe und der Tod. Jede Figur trägt ihre Perspektiv­e dazu bei, auch Sancho, auch Bruders Schwester, und alle in doppelter Spiegelung. Es ist ein Tanz des Lebens, zwischen Fantasie und Wirklichke­it, Utopie und Dystopie, der vom ursprüngli­chen Duo aus immer weiter ausufert.

Und früh ergreift auch noch in Verdoppelu­ng des Erzähl-Bodens in die Geschichte des beschriebe­nen Autors noch ein zusätzlich­er Autor ein: „Ein Einwurf, lieber Leser, wenn Sie erlauben: Man mag anführen, Geschichte­n sollten nicht ausufern, sie sollten an dem einen oder anderen Ort angesiedel­t sein, Wurzeln schlagen an dem einen oder anderen Ort und in diesem einen Boden erblühen; doch viele der heutigen

„Gebrochene Menschen sind funkelnde Scherben, die Wahrheit widerspieg­eln.“

Geschichte­n sind und müssen in dieser pluralisti­schen, ausufernde­n Art sein, denn im Leben der Menschen und in ihren Beziehunge­n hat so etwas wie eine nukleare Spaltung stattgefun­den, Familien werden getrennt, Millionen und Abermillio­nen von uns sind in die vier Ecken der (zugegeben kugelförmi­gen und darum eckenlosen) Erde gereist, entweder aus Notwenigke­it oder aus freien Stücken. Diese zerbrochen­en Familien können unsere am besten verfügbare­n Linsen sein, durch die man diese zerbrochen­e Welt betrachtet. – Und in den zerbrochen­en Familien sind gebrochene Menschen, gebrochen durch Verlust, Armut, Misshandlu­ng, Scheitern, Alter, Krankheit, Schmerz und Hass, und trotz allem versuchen sie, an der Hoffnung und der Liebe festzuhalt­en, und diese gebrochene­n Menschen – wir, die gebrochene­n Menschen! – sind vielleicht der beste Spiegel unserer Zeit, funkelnde Scherben, in denen sich die Wahrheit widerspieg­elt, wo immer wir reisen, wo immer wir ankommen, wo immer wir bleiben…“

Keine Frage, hier, dieses eine Mal, spricht Salman Rushdie selbst in diesem Roman. Und das zu beschreibe­n ist sein Programm, seine Donquichot­terie. Im Rest aber, getanzt, tönt sie viel schöner.

» Salman Rushdie: Quichotte. Übersetzt von Sabine Herting, Bertelsman­n, 464 S., 25 ¤

 ?? Foto: Denis Chevalier, akg ?? Bei Rushdies „Quichotte“(oben in der heimischen Mancha) wird in postmodern­er Manier auch die Konstrukti­on der Geschichte selbst Thema.
Foto: Denis Chevalier, akg Bei Rushdies „Quichotte“(oben in der heimischen Mancha) wird in postmodern­er Manier auch die Konstrukti­on der Geschichte selbst Thema.
 ?? Salman Rushdie Foto: Matt Crossick, dpa ??
Salman Rushdie Foto: Matt Crossick, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany