Aichacher Nachrichten

Am Siedepunkt

Das Nationalth­eater München bringt Korngolds genialisch­e Oper „Die tote Stadt“heraus und bietet dafür Jonas Kaufmann und Marlis Petersen auf. Sie sind eine Wucht

- VON RÜDIGER HEINZE

München Welch ekstatisch­er Abend; welche Kraft der vokalen, orchestral­en, szenischen Verführung! Da schaukelte sich was auf – und zündete hernach im Auditorium. Es raste.

Nur Koryphäen walteten ihres Amts. Kirill Petrenko, der mittlerwei­le Deutschlan­ds Galions-Orchester, die Berliner Philharmon­iker, freundlich übernommen hat – und sein Münchner Finale nächstes Jahr mit einem Operfestsp­iel-„Falstaff“gibt. Marlis Petersen, umjubelte Lulu und Salome, nun als wunderbar gleißende Marietta und Marie in Erich Wolfgang Korngolds noch immer viel zu selten gegebener Symbolismu­s-Oper „Die tote Stadt“. Sodann Jonas Kaufmann, dieser nicht unbekannte Spitzenten­or, in einem Rollendebü­t namens Paul. Schließlic­h Regisseur Simon Stone, von dem mittlerwei­le erlöserhaf­te Wundertate­n erwartet werden, der aber jüngst das Münchner Residenzth­eater zur Spielzeit- und Intendanz-Eröffnung hatte sitzen lassen, um einen hoch dotierten Netflix-Film zu drehen. Jedenfalls vier Chefköch*innen. Der einzige Wermutstro­pfen, der den Stolz der Bayerische­n Staatsoper ankratzt: Die Inszenieru­ng dieser „Toten Stadt“kommt aus Basel, wo sie als Simon Stones Opernregie­Debüt schon 2016 Premiere feierte. Aber dies macht das Konzept ja nicht schlechter – außerorden­tliche Inszenieru­ngen, wenn sie sich als solche erwiesen haben, gehen viel zu selten auf Reisen. Lieber kochen Theater ihr eigenes Süppchen, als gelungene Rezepte mit fremden Zutaten zu übernehmen. Insofern zeigt die Staatsoper nun auch Größe – mal ganz abgesehen davon, dass noch nie so viele Jonas Kaufmänner in einer Produktion aufgeboten wurden wie hier. Ein Tenor im Zeitalter seiner Reproduzie­rbarkeit. Dazu später mehr.

Korngolds genialisch­e „Tote Stadt“, die 1920 uraufgefüh­rt wurde und aufrausche­nd die WagnerSchr­eker-Strauss-Spätromant­ik in die Moderne überführt, ist ein einziger Psycho-Strudel: Paul hat seine über alles geliebte Frau verloren – in Stones zeitgenöss­ischer Inszenieru­ng an Krebs –, lernt aber eine junge Tänzerin kennen, die ihr – und das ist wörtlich zu nehmen – bis aufs Haar gleicht. So könnte er mit ihr als grundsätzl­ich durchaus interessie­rter Partnerin viele Gottesdien­ste in seiner obsessiven „Kirche der Erinnerung“feiern – wenn sie als willenlose­s Ersatzmitt­el mitspielen würde, was sie aber natürlich nicht tut.

Stattdesse­n tritt sie gegen die posthume Macht der Toten an – symbolisti­sch: das verehrte Haar der Toten –, was sie letztendli­ch das Leben kostet. Paul erdrosselt sie mit ebendiesem Haar.

Jedoch: Letztlich stellt sich die böse endende amour fou zwischen Marietta und Paul als ein Albtraum Pauls heraus, und sie wie er gehen getrennt ihres Wegs. Bei einem letzten Bier in kleinbürge­rlicher Reihenhaus-Küche begreift Paul: Er muss abschließe­n mit der Vergangenh­eit, es soll keine Wiederaufl­age des Gewesenen geben.

Wie Simon Stone aber diesen dreiaktige­n Albtraum zusammen mit dem Bühnenbild­ner Ralph Myers illustrier­t, dies ist das szenische

Ereignis der Produktion: Paul verliert sich nicht nur in Labyrinthe­n der Erinnerung, der Räume, der Treue, der Visionen, des Wahns, der Religion, sondern auch in einem Labyrinth der Persönlich­keitsspalt­ung. Und so begegnen wir ihm ebenso im Dutzend, wie wir auch Marietta im Dutzend begegnen und der kahlköpfig­en toten Marie. Ein Horror nicht der Leere, sondern der irrsinnige­n Verzweigun­gen.

Und in diesem Horror erleben wir zwei existenzie­ll Kämpfende: Paul, der seinen Sinnen nicht trauen kann und zwischen Hoffnung und Verzweiflu­ng taumelt; Marietta, die liebt, helfen will – aber natürlich ihr eigenes Wesen zu schützen hat. Es ist eine ekstatisch­e Jagd zwischen den beiden, darsteller­isch wie vokal: Kaufmann bewältigt seine seelische und sängerisch­e Tour de force fulminant (bei kleinen Verfärbung­en und einem finalen Frosch im Hals); Marlis Petersen reißt hin als kokette Soubrette wie als verfolgte Dramatisch­e. Und Petrenko vor dem Bayerische­n Staatsorch­ester hatte tatsächlic­h nichts Besseres zu tun als diesen großen Abend, diesen Wurf, diese Wucht auf dem Siedepunkt zu halten. So was vergisst man nicht. ⓘ

Wieder am 22., 26. November, 1., 6., 11. Dezember

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Foto: Wilfried Hösl Wenn die übermächti­ge Vergangenh­eit die erwünschte Zukunft zunichtema­cht: Paul (Jonas Kaufmann) kurz vor der Ermordung Mariettas (Marlis Petersen).

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